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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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dieses Jahrhunderts. Handel und seine Vorgänger waren ganz in Vergessen¬
heit gerathen, und jetzt erst beginnt wieder eine Umkehr zum Besseren. Daß dann
oft kleine Chöre Handels Musik nicht ganz gerecht werden, ist freilich wahr,
aber besser, die schwachen Kräfte an schwerer und guter Musik zu stärken als
sie an schlechte zu vergeuden.

Nach dem Anthea wird die Litanei vom Geistlichen und dem Chöre re-
sponsvrisch gesungen, meist nach einer prächtigen allen Composition von Tallis
mit überaus schönen überraschenden harmonischen Wendungen. Ein vom Chöre
gesungner IntrvUus, gewöhnlich ein Sanctus, leitet dann über zum liturgischen
Theile der Communion. Dieser beginnt mit der Lesung der zehn Gebote, nach
deren jedem der Chor ein kurzes Kyrie singt und schließt nach einigen langen
Gebeten mit dem vom Chöre gesungenen Glaubensbekenntnis. Den Gottes¬
dienst, der hiermit eigentlich zu Crde ist, Mit der Predigt verbindend, folgt jetzt
ein kurzer Choral, und hier wieder zeigt sich in den letzten Jahren eine große
Verbesserung des Geschmacks in der Einführung unserer besten deutschen Chvral-
melodien. Die bisher gebräuchlichen englischen Choralmelodien halten größten-
theils nur wenig kirchliches Element in sich. Meist im V- Takt mit oft vor¬
kommenden vunlttrten Noten brauchen sie nur ein wenig geeilt zu werben, um
in die lustigsten Tanzmelodien auszuarten. Indem man endlich den Mangel an
guten Chorälen fühlte, ließ man sich verleiten, neue weltliche Melodien, die
nicht geradezu frivol waren, als Choralmelodien zu benutzen. So kamen all-
mälig entstellte englische, italienische und deutsche Volkslieder in die Kirche, und
das Volk hat diese sangbaren Weisen so lieb gewonnen, daß unser alter stren¬
ger deutscher Choral sich jetzt erst langsam durchzuarbeiten beginnt, dank der
Beharrlichkeit mancher Geistlichen und Organisten, die nicht müde werden, ihn
dem verdorbenen Geschmacke des Volks zugänglich zu machen.

Die englische Kirche erlaubt keinen Dirigenten im Gottesdienst; die Orgel
beginnet allen Ecsang. Das ist sicherlich ein großer Maugel, der sich selbst bei
den geübtesten Kalhcdralchören fühlbar macht. Die Kathedralen haben bezahlte
Sängerchöre, doch wurde ich mehr ober minder in meinen Erwartungen von
den Leistungen dieser Chöre getäuscht. Fast ohne Ausnahme begegnete ich einer
großen Nachlässigkeit und Sorglosigkeit, die den Eesang unordentlich und un¬
vollendet erscheinen ließ. Sei es, daß das Singen ohne Dirigenten dies ver¬
ursachte, obgleich ich mir kaum deuten kann, baß ein geübter Chor deswegen
so viel schlechter singen sollte, oder sei es, baß das Wiederholen desselben Gottes¬
dienstes Tag sür Tag, wie es in den Kathedralen geschieht, den Gesang zu
etwas rein Mechanischen herabgezogen hatte -- die Sache nahm sich unter
allen Umständen übel aus. Der Chor hat seinen Platz aus beiden Seiten des
Altars auf wenig erhöhten Sitzen, und zwar auf beiden Seiten wegen der oft
vorkommenden antiphonischer Gesänge. Dies bestimmt denn auch die Stellung


dieses Jahrhunderts. Handel und seine Vorgänger waren ganz in Vergessen¬
heit gerathen, und jetzt erst beginnt wieder eine Umkehr zum Besseren. Daß dann
oft kleine Chöre Handels Musik nicht ganz gerecht werden, ist freilich wahr,
aber besser, die schwachen Kräfte an schwerer und guter Musik zu stärken als
sie an schlechte zu vergeuden.

Nach dem Anthea wird die Litanei vom Geistlichen und dem Chöre re-
sponsvrisch gesungen, meist nach einer prächtigen allen Composition von Tallis
mit überaus schönen überraschenden harmonischen Wendungen. Ein vom Chöre
gesungner IntrvUus, gewöhnlich ein Sanctus, leitet dann über zum liturgischen
Theile der Communion. Dieser beginnt mit der Lesung der zehn Gebote, nach
deren jedem der Chor ein kurzes Kyrie singt und schließt nach einigen langen
Gebeten mit dem vom Chöre gesungenen Glaubensbekenntnis. Den Gottes¬
dienst, der hiermit eigentlich zu Crde ist, Mit der Predigt verbindend, folgt jetzt
ein kurzer Choral, und hier wieder zeigt sich in den letzten Jahren eine große
Verbesserung des Geschmacks in der Einführung unserer besten deutschen Chvral-
melodien. Die bisher gebräuchlichen englischen Choralmelodien halten größten-
theils nur wenig kirchliches Element in sich. Meist im V- Takt mit oft vor¬
kommenden vunlttrten Noten brauchen sie nur ein wenig geeilt zu werben, um
in die lustigsten Tanzmelodien auszuarten. Indem man endlich den Mangel an
guten Chorälen fühlte, ließ man sich verleiten, neue weltliche Melodien, die
nicht geradezu frivol waren, als Choralmelodien zu benutzen. So kamen all-
mälig entstellte englische, italienische und deutsche Volkslieder in die Kirche, und
das Volk hat diese sangbaren Weisen so lieb gewonnen, daß unser alter stren¬
ger deutscher Choral sich jetzt erst langsam durchzuarbeiten beginnt, dank der
Beharrlichkeit mancher Geistlichen und Organisten, die nicht müde werden, ihn
dem verdorbenen Geschmacke des Volks zugänglich zu machen.

Die englische Kirche erlaubt keinen Dirigenten im Gottesdienst; die Orgel
beginnet allen Ecsang. Das ist sicherlich ein großer Maugel, der sich selbst bei
den geübtesten Kalhcdralchören fühlbar macht. Die Kathedralen haben bezahlte
Sängerchöre, doch wurde ich mehr ober minder in meinen Erwartungen von
den Leistungen dieser Chöre getäuscht. Fast ohne Ausnahme begegnete ich einer
großen Nachlässigkeit und Sorglosigkeit, die den Eesang unordentlich und un¬
vollendet erscheinen ließ. Sei es, daß das Singen ohne Dirigenten dies ver¬
ursachte, obgleich ich mir kaum deuten kann, baß ein geübter Chor deswegen
so viel schlechter singen sollte, oder sei es, baß das Wiederholen desselben Gottes¬
dienstes Tag sür Tag, wie es in den Kathedralen geschieht, den Gesang zu
etwas rein Mechanischen herabgezogen hatte — die Sache nahm sich unter
allen Umständen übel aus. Der Chor hat seinen Platz aus beiden Seiten des
Altars auf wenig erhöhten Sitzen, und zwar auf beiden Seiten wegen der oft
vorkommenden antiphonischer Gesänge. Dies bestimmt denn auch die Stellung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/200>, abgerufen am 02.10.2024.