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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band.

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und je öfter das Volk dieser Musik zuhörte, desto mehr werde es sie lieben Aelt
schätzen lernen, und wenn ich nun noch hinzufüge, daß Joachim seit Ostern das
Streichquartett leitet und oft eins seiner wunderbar großen Bachschen Violin¬
solos spielt (ich sage "seiner", weil die wirklich ganz sein innerstes Eigenthum
sind), und wenn er, was Uvah mehr sagen will, ein Publicum findet, welches
sein tiefes und warmes Spiel versteht und ihm nachempfindet, so muß doch die
musikalische Nacht, die so lange übe^r England gelagert, im Schwinden, und
auch dort ein rechtes Verständniß für das wahrhaft Schöne im Ausgehen be¬
griffen sein. Ein Programm, welches die schwierigeren zur Aufführung kommen¬
den Werke zerlegt und erklärt, und auch sonst manche werthvolle geschichtliche
Notiz enthält, dient dem Laien als Führer; die in den Text gedruckten Nvten-
beispicle machen ihn vorher mit den Hauptmotiven der Musik bekannt, lenken
seine Aufmerksamkeit auf einzelne Schönheiten und bahnen so ein Verständniß
für diese schönsten Werke unserer Meister an, welches den förderndsten Einfluß
für die Entwicklung rechten musikalischen Sinnes haben muß.

Anders ist es freilich außerhalb London, wo außer Manchester Wohl kaum
in irgend einer Stadt der Sinn für Instrumentalmusik geweckt ist. Kleine
Chörcöncerte, in die hin und wieder zur Abwechselung cire Jnstrumentalsatz
eingestreut ist, sind alles, was die meisten Provinzialstädte erreichen. Einzelne,
z. B. Leeds, Bradford, Birmingham und Norwich haben große Gesangvereine,
die namentlich bei den Musiksesten in diesen Städten die Chöre bilden. Die
Programme zu diesen Zusammenkünften sind so stereotyp, daß wir hier wieder,
bei einer Vergleichungsweise großen musikalischen Ungeschicklichkeit, eine gewisse
Fertigkeit in den Leistungen finden. Wenn in der Mitte Juli London sich ge¬
leert hat, der Concerte immer weniger geworden sind, die italienischen Opern¬
gesellschaften ihre Vorstellungen geschlossen Kaden und alle Musik in der Haupt¬
stadt für die nächsten vier Monate feiert, sind in den Provinzen Irland und
Schottland unzählige Agenten thätig im Arrangiren von Concerten, bis gegen
Ende October die ganze Schaar italienischer, englischer und deutscher Künstler
sich wieder in London versammelt und von hier in einzelnen Gesellschaften bis
Weihnachten das ganze Land mit Concerten und Opernvorstellungen überschüttet.
Großer künstlerischer Werth ist diesen Concerten nicht beizulegen, ihr Vorbild sind
größtentheils die Londoner Morgencvncerte. So erschien z. B. Beethovens
Violinsonate in in einem Programm als I)no eoneki't-rude, um sie dem Pu¬
blicum etwas verdaulicher zu machen. Aber trotz dieses Titels und trotz einer
kleinen Zustutzung. indem man einige Seiten des mittleren langsamen Satzes
ausließ, nannte einer meiner Nachbarn diese Musik "Stupik^inA", begann einzu¬
schlafen und erwachte erst wieder, als ein komisches Terzett von Haydn das
Concert abschloß.

Die beiden Universitäten Englands, obgleich sie Professoren der Musik'haben.


und je öfter das Volk dieser Musik zuhörte, desto mehr werde es sie lieben Aelt
schätzen lernen, und wenn ich nun noch hinzufüge, daß Joachim seit Ostern das
Streichquartett leitet und oft eins seiner wunderbar großen Bachschen Violin¬
solos spielt (ich sage „seiner", weil die wirklich ganz sein innerstes Eigenthum
sind), und wenn er, was Uvah mehr sagen will, ein Publicum findet, welches
sein tiefes und warmes Spiel versteht und ihm nachempfindet, so muß doch die
musikalische Nacht, die so lange übe^r England gelagert, im Schwinden, und
auch dort ein rechtes Verständniß für das wahrhaft Schöne im Ausgehen be¬
griffen sein. Ein Programm, welches die schwierigeren zur Aufführung kommen¬
den Werke zerlegt und erklärt, und auch sonst manche werthvolle geschichtliche
Notiz enthält, dient dem Laien als Führer; die in den Text gedruckten Nvten-
beispicle machen ihn vorher mit den Hauptmotiven der Musik bekannt, lenken
seine Aufmerksamkeit auf einzelne Schönheiten und bahnen so ein Verständniß
für diese schönsten Werke unserer Meister an, welches den förderndsten Einfluß
für die Entwicklung rechten musikalischen Sinnes haben muß.

Anders ist es freilich außerhalb London, wo außer Manchester Wohl kaum
in irgend einer Stadt der Sinn für Instrumentalmusik geweckt ist. Kleine
Chörcöncerte, in die hin und wieder zur Abwechselung cire Jnstrumentalsatz
eingestreut ist, sind alles, was die meisten Provinzialstädte erreichen. Einzelne,
z. B. Leeds, Bradford, Birmingham und Norwich haben große Gesangvereine,
die namentlich bei den Musiksesten in diesen Städten die Chöre bilden. Die
Programme zu diesen Zusammenkünften sind so stereotyp, daß wir hier wieder,
bei einer Vergleichungsweise großen musikalischen Ungeschicklichkeit, eine gewisse
Fertigkeit in den Leistungen finden. Wenn in der Mitte Juli London sich ge¬
leert hat, der Concerte immer weniger geworden sind, die italienischen Opern¬
gesellschaften ihre Vorstellungen geschlossen Kaden und alle Musik in der Haupt¬
stadt für die nächsten vier Monate feiert, sind in den Provinzen Irland und
Schottland unzählige Agenten thätig im Arrangiren von Concerten, bis gegen
Ende October die ganze Schaar italienischer, englischer und deutscher Künstler
sich wieder in London versammelt und von hier in einzelnen Gesellschaften bis
Weihnachten das ganze Land mit Concerten und Opernvorstellungen überschüttet.
Großer künstlerischer Werth ist diesen Concerten nicht beizulegen, ihr Vorbild sind
größtentheils die Londoner Morgencvncerte. So erschien z. B. Beethovens
Violinsonate in in einem Programm als I)no eoneki't-rude, um sie dem Pu¬
blicum etwas verdaulicher zu machen. Aber trotz dieses Titels und trotz einer
kleinen Zustutzung. indem man einige Seiten des mittleren langsamen Satzes
ausließ, nannte einer meiner Nachbarn diese Musik „Stupik^inA", begann einzu¬
schlafen und erwachte erst wieder, als ein komisches Terzett von Haydn das
Concert abschloß.

Die beiden Universitäten Englands, obgleich sie Professoren der Musik'haben.


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[0198] und je öfter das Volk dieser Musik zuhörte, desto mehr werde es sie lieben Aelt schätzen lernen, und wenn ich nun noch hinzufüge, daß Joachim seit Ostern das Streichquartett leitet und oft eins seiner wunderbar großen Bachschen Violin¬ solos spielt (ich sage „seiner", weil die wirklich ganz sein innerstes Eigenthum sind), und wenn er, was Uvah mehr sagen will, ein Publicum findet, welches sein tiefes und warmes Spiel versteht und ihm nachempfindet, so muß doch die musikalische Nacht, die so lange übe^r England gelagert, im Schwinden, und auch dort ein rechtes Verständniß für das wahrhaft Schöne im Ausgehen be¬ griffen sein. Ein Programm, welches die schwierigeren zur Aufführung kommen¬ den Werke zerlegt und erklärt, und auch sonst manche werthvolle geschichtliche Notiz enthält, dient dem Laien als Führer; die in den Text gedruckten Nvten- beispicle machen ihn vorher mit den Hauptmotiven der Musik bekannt, lenken seine Aufmerksamkeit auf einzelne Schönheiten und bahnen so ein Verständniß für diese schönsten Werke unserer Meister an, welches den förderndsten Einfluß für die Entwicklung rechten musikalischen Sinnes haben muß. Anders ist es freilich außerhalb London, wo außer Manchester Wohl kaum in irgend einer Stadt der Sinn für Instrumentalmusik geweckt ist. Kleine Chörcöncerte, in die hin und wieder zur Abwechselung cire Jnstrumentalsatz eingestreut ist, sind alles, was die meisten Provinzialstädte erreichen. Einzelne, z. B. Leeds, Bradford, Birmingham und Norwich haben große Gesangvereine, die namentlich bei den Musiksesten in diesen Städten die Chöre bilden. Die Programme zu diesen Zusammenkünften sind so stereotyp, daß wir hier wieder, bei einer Vergleichungsweise großen musikalischen Ungeschicklichkeit, eine gewisse Fertigkeit in den Leistungen finden. Wenn in der Mitte Juli London sich ge¬ leert hat, der Concerte immer weniger geworden sind, die italienischen Opern¬ gesellschaften ihre Vorstellungen geschlossen Kaden und alle Musik in der Haupt¬ stadt für die nächsten vier Monate feiert, sind in den Provinzen Irland und Schottland unzählige Agenten thätig im Arrangiren von Concerten, bis gegen Ende October die ganze Schaar italienischer, englischer und deutscher Künstler sich wieder in London versammelt und von hier in einzelnen Gesellschaften bis Weihnachten das ganze Land mit Concerten und Opernvorstellungen überschüttet. Großer künstlerischer Werth ist diesen Concerten nicht beizulegen, ihr Vorbild sind größtentheils die Londoner Morgencvncerte. So erschien z. B. Beethovens Violinsonate in in einem Programm als I)no eoneki't-rude, um sie dem Pu¬ blicum etwas verdaulicher zu machen. Aber trotz dieses Titels und trotz einer kleinen Zustutzung. indem man einige Seiten des mittleren langsamen Satzes ausließ, nannte einer meiner Nachbarn diese Musik „Stupik^inA", begann einzu¬ schlafen und erwachte erst wieder, als ein komisches Terzett von Haydn das Concert abschloß. Die beiden Universitäten Englands, obgleich sie Professoren der Musik'haben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_114313/198>, abgerufen am 05.02.2025.