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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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findet sich nach Schluß des Gottesdienstes in der Schule die ganze Gemeinde
zusammen, um zu berathen, wie diesem Gefühl thatsächlicher Ausdruck zu geben.
"Wollen ihm eine Artigkeit erweisen," beginnt der Eine. "Wollen ihm hun¬
dert Gulden verehren." -- "Werden wir ihm doch kein Geld geben, dem gro¬
ßen Herrn aus Warschau," erwidert ein Anderer. "Sallate sich das doch nicht
für eine Predigt." --- "Ich weiß was," ruft ein Dritter sogleich, "werden dem
Herrn Rabbiner ein Faß Wein schicken." Dieser Einfall wird von der gcsaMMten
Judenschaft gebilligt und darnach zu verfahren beschlossen. Aber wo das Faß
Wein herbekommen? Im ganzen Städtchen existirt kein solcher Schatz, obwohl alle
Einzelne einige Flaschen im Hause haben. Da weiß der kluge Kopf, der den
ersten Rath ertheilt, auch Mit einem zweiten zu dienen, der alle Bedenken be¬
schwichtigt. "Werden wir's so machen, daß wir ein leeres Faß nehmen. Jeder
von unsern Leuten geht nach Hause, holt eine Flasche Wein und gießt sie in
das Faß, bis es voll ist. Dann schicken wir's dem Herrn Prediger, und er
wird sich freuen."

Auch dieser Vorschlag fand Wohlgefallen bei den Hörern, und sofort wird
Hand ein's Werk gelegt. Nun ist da aber einer unter den guten Leuten, der
denkt, als er seinen Weinbeitrag zu holen geht, bei sich: "Was sollst du Wein
geben? Die Predigt war gut. und dankbar sein ist auch gut. aber Selbcrtrinken
ist besser. Wirst deine Flasche mit Wasser füllen. Wer wird's sehen, und
eine Flasche Wasser unter neunundneunzig Flaschen Wein kann nichts ver¬
derben."

Gesagt, gethan. Das Faß füllt sich, wird verspundet, auf die Post ge¬
geben und von dieser richtig an seine Adresse befördert.

Und was bekam der Rabbiner, als er daran ging, sein Faß abzuziehen?
Er kostete, prüfte das Glas gegen das Licht, und siehe da -- es war reines
unvermischtcs Brunnenwasser. Die ganze Gemeinde hatte ebenso gedacht, wie
jener Schmuck oder Jtzig, dessen Geiz sich auf die Ehrlichkeit und Freigebigkeit
der Andern verlassen, und ebenso gehandelt.'

Nun wird man nach der obigen Ausführung einwerfen, daß diese Geschichte
auf unsern Fall nicht recht passe, da hier Tausende ihre Pflicht gethan. Sehr
recht, wir erzählen sie aber auch nur den andern Tausenden, die sie nicht gethan, die
sich im Verlaß auf die opferbereite Gesinnung jener von ihr dispensiren zu
dürfen wähnten. Nicht der Gustav-Adolf-Verein, sondern die gesammte prote¬
stantische Christenheit steht uns bei unserm Vergleich vor Augen. Derselbe
würde ganz zutreffen, wenn etwa ein Drittel oder die Hälfte jener Judenge-
meinde, ohne auf die Pflichterfüllung der Andern zu rechnen, ihre Schuldigkeit
gethan hätte. Aber wohl zu bemerken: -- auch dann hätte der Rabbiner nur
gewässerten Wein bekommen.

Möge darum jeder, der im Stande ist, zu wirken, sein Theil dazu bei-


findet sich nach Schluß des Gottesdienstes in der Schule die ganze Gemeinde
zusammen, um zu berathen, wie diesem Gefühl thatsächlicher Ausdruck zu geben.
„Wollen ihm eine Artigkeit erweisen," beginnt der Eine. „Wollen ihm hun¬
dert Gulden verehren." — „Werden wir ihm doch kein Geld geben, dem gro¬
ßen Herrn aus Warschau," erwidert ein Anderer. „Sallate sich das doch nicht
für eine Predigt." -— „Ich weiß was," ruft ein Dritter sogleich, „werden dem
Herrn Rabbiner ein Faß Wein schicken." Dieser Einfall wird von der gcsaMMten
Judenschaft gebilligt und darnach zu verfahren beschlossen. Aber wo das Faß
Wein herbekommen? Im ganzen Städtchen existirt kein solcher Schatz, obwohl alle
Einzelne einige Flaschen im Hause haben. Da weiß der kluge Kopf, der den
ersten Rath ertheilt, auch Mit einem zweiten zu dienen, der alle Bedenken be¬
schwichtigt. „Werden wir's so machen, daß wir ein leeres Faß nehmen. Jeder
von unsern Leuten geht nach Hause, holt eine Flasche Wein und gießt sie in
das Faß, bis es voll ist. Dann schicken wir's dem Herrn Prediger, und er
wird sich freuen."

Auch dieser Vorschlag fand Wohlgefallen bei den Hörern, und sofort wird
Hand ein's Werk gelegt. Nun ist da aber einer unter den guten Leuten, der
denkt, als er seinen Weinbeitrag zu holen geht, bei sich: „Was sollst du Wein
geben? Die Predigt war gut. und dankbar sein ist auch gut. aber Selbcrtrinken
ist besser. Wirst deine Flasche mit Wasser füllen. Wer wird's sehen, und
eine Flasche Wasser unter neunundneunzig Flaschen Wein kann nichts ver¬
derben."

Gesagt, gethan. Das Faß füllt sich, wird verspundet, auf die Post ge¬
geben und von dieser richtig an seine Adresse befördert.

Und was bekam der Rabbiner, als er daran ging, sein Faß abzuziehen?
Er kostete, prüfte das Glas gegen das Licht, und siehe da — es war reines
unvermischtcs Brunnenwasser. Die ganze Gemeinde hatte ebenso gedacht, wie
jener Schmuck oder Jtzig, dessen Geiz sich auf die Ehrlichkeit und Freigebigkeit
der Andern verlassen, und ebenso gehandelt.'

Nun wird man nach der obigen Ausführung einwerfen, daß diese Geschichte
auf unsern Fall nicht recht passe, da hier Tausende ihre Pflicht gethan. Sehr
recht, wir erzählen sie aber auch nur den andern Tausenden, die sie nicht gethan, die
sich im Verlaß auf die opferbereite Gesinnung jener von ihr dispensiren zu
dürfen wähnten. Nicht der Gustav-Adolf-Verein, sondern die gesammte prote¬
stantische Christenheit steht uns bei unserm Vergleich vor Augen. Derselbe
würde ganz zutreffen, wenn etwa ein Drittel oder die Hälfte jener Judenge-
meinde, ohne auf die Pflichterfüllung der Andern zu rechnen, ihre Schuldigkeit
gethan hätte. Aber wohl zu bemerken: — auch dann hätte der Rabbiner nur
gewässerten Wein bekommen.

Möge darum jeder, der im Stande ist, zu wirken, sein Theil dazu bei-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/522>, abgerufen am 06.01.2025.