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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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Diese Sitten des Kaufmannsstandes fallen aber wenig ins Gewicht,
wenn man sie mit den Vorurtheilen vergleicht, nach denen in diesem Bereich
geheirathet wird. Mancher Vornehme würde sich mit Familienrücksichten ent¬
schuldigen können, wenn er nur aus den Reihen von Seinesgleichen seine Wahl
träfe, und doch sind hier in Rußland Verheiratungen mit Mädchen geringern
Standes so wenig unerhört als bei uns. Der russische Kaufmann macht sich
dagegen einer Mißheirat!) niemals schuldig: er verkauft seine Töchter und kauft
seine Schwiegersöhne, wie wenn sichs um ebensoviele Tonnen Caviar oder Talg
handelte. Die Angelegenheit wird in der Regel durch einen Makler vermittelt,
der einen passenden Bräutigam oder etre annehmbare Braut besorgt, und es
gilt durchaus nicht immer für nöthig oder wünschenswerth, daß die jungen
Leute vor der Trauung mit einander bekannt werden. In einem Lustspiel,
welches zur Zeit der Krönung des jetzigen Kaisers in Moskau sehr beliebt war,
liegt der ganze Humor darin, daß ein Bräutigam seine Braut nicht eher kennen
lernt als auf dem Wege zum Altar. Der Unglückliche ist in Verzweiflung,
daß seine Eltern ihn nöthigen, ein Mädchen zu heirathen, das er nicht kennt,
und das Mädchen, welches er liebt, nicht zur Frau zu nehmen, bis er endlich
die beglückende Entdeckung macht, daß seine Braut und seine Geliebte eine
und dieselbe Person sind.

Welches der Geschmack der jungen Damen ist, mag ein anderes Stück,
das zu den besten seiner Gattung gehört, Ostroffsti's "Swoi Ludi" zeigen.
Hier wünscht sich die Tochter eines Kaufmanns, die heiratsfähig geworden,
natürlich Mit einem jungen Herrn von feiner Lebensart und eleganter Tour-
nüre zu vermählen. Als ein Jüngling von der Handlung erscheint und um
ihre'Hand anhält, betrachtet sie ihn zunächst mit Geringschätzung, bis er end¬
lich einen leidenschaftlichen Anlauf nimmt und sich zu außerordentlichen Opfern
erbietet. "Ja heiß mich selbst zu einem deutschen Schneider gehen und mir
einen Modefrack kaufen (er trägt einen Kaftan), heiß mich sogar meinen Bart
abscheeren (der Jüngling ist in Besitz eines artigen Exemplars), so werd' ichs
thun!" ruft der Freier emphatisch aus. -- "Ich verlange blos einen Beweis
der Liebe," antwortet die junge Schöne. -- "Was ist's?" fragt jener. --
"Lernen Sie Französisch."

Bekannt ist, daß eine große Anzahl der russischen Kaufleute den allgläu-.
bigen Secten (Raskolniken oder Starvwerzen) angehört. Dieselben sind sehr
exclusiv, starke. Gegner alles Fremdländischen und deshalb fremden Reisenden
wenig zugänglich. Indeß kann man sie an öffentlichen Orten beobachten, und
in Moskau ist sogar eine große Theewirthschaft (Traktir) eigens für sie bestimmt.
Ueber den Glauben und die Sitten dieser Secten haben wir früher ausführ¬
lich berichtet.

Die industrielle Thätigkeit Rußlands hat sich in den letzten drei Jahr-


Diese Sitten des Kaufmannsstandes fallen aber wenig ins Gewicht,
wenn man sie mit den Vorurtheilen vergleicht, nach denen in diesem Bereich
geheirathet wird. Mancher Vornehme würde sich mit Familienrücksichten ent¬
schuldigen können, wenn er nur aus den Reihen von Seinesgleichen seine Wahl
träfe, und doch sind hier in Rußland Verheiratungen mit Mädchen geringern
Standes so wenig unerhört als bei uns. Der russische Kaufmann macht sich
dagegen einer Mißheirat!) niemals schuldig: er verkauft seine Töchter und kauft
seine Schwiegersöhne, wie wenn sichs um ebensoviele Tonnen Caviar oder Talg
handelte. Die Angelegenheit wird in der Regel durch einen Makler vermittelt,
der einen passenden Bräutigam oder etre annehmbare Braut besorgt, und es
gilt durchaus nicht immer für nöthig oder wünschenswerth, daß die jungen
Leute vor der Trauung mit einander bekannt werden. In einem Lustspiel,
welches zur Zeit der Krönung des jetzigen Kaisers in Moskau sehr beliebt war,
liegt der ganze Humor darin, daß ein Bräutigam seine Braut nicht eher kennen
lernt als auf dem Wege zum Altar. Der Unglückliche ist in Verzweiflung,
daß seine Eltern ihn nöthigen, ein Mädchen zu heirathen, das er nicht kennt,
und das Mädchen, welches er liebt, nicht zur Frau zu nehmen, bis er endlich
die beglückende Entdeckung macht, daß seine Braut und seine Geliebte eine
und dieselbe Person sind.

Welches der Geschmack der jungen Damen ist, mag ein anderes Stück,
das zu den besten seiner Gattung gehört, Ostroffsti's „Swoi Ludi" zeigen.
Hier wünscht sich die Tochter eines Kaufmanns, die heiratsfähig geworden,
natürlich Mit einem jungen Herrn von feiner Lebensart und eleganter Tour-
nüre zu vermählen. Als ein Jüngling von der Handlung erscheint und um
ihre'Hand anhält, betrachtet sie ihn zunächst mit Geringschätzung, bis er end¬
lich einen leidenschaftlichen Anlauf nimmt und sich zu außerordentlichen Opfern
erbietet. „Ja heiß mich selbst zu einem deutschen Schneider gehen und mir
einen Modefrack kaufen (er trägt einen Kaftan), heiß mich sogar meinen Bart
abscheeren (der Jüngling ist in Besitz eines artigen Exemplars), so werd' ichs
thun!" ruft der Freier emphatisch aus. — „Ich verlange blos einen Beweis
der Liebe," antwortet die junge Schöne. — „Was ist's?" fragt jener. —
„Lernen Sie Französisch."

Bekannt ist, daß eine große Anzahl der russischen Kaufleute den allgläu-.
bigen Secten (Raskolniken oder Starvwerzen) angehört. Dieselben sind sehr
exclusiv, starke. Gegner alles Fremdländischen und deshalb fremden Reisenden
wenig zugänglich. Indeß kann man sie an öffentlichen Orten beobachten, und
in Moskau ist sogar eine große Theewirthschaft (Traktir) eigens für sie bestimmt.
Ueber den Glauben und die Sitten dieser Secten haben wir früher ausführ¬
lich berichtet.

Die industrielle Thätigkeit Rußlands hat sich in den letzten drei Jahr-


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[0311] Diese Sitten des Kaufmannsstandes fallen aber wenig ins Gewicht, wenn man sie mit den Vorurtheilen vergleicht, nach denen in diesem Bereich geheirathet wird. Mancher Vornehme würde sich mit Familienrücksichten ent¬ schuldigen können, wenn er nur aus den Reihen von Seinesgleichen seine Wahl träfe, und doch sind hier in Rußland Verheiratungen mit Mädchen geringern Standes so wenig unerhört als bei uns. Der russische Kaufmann macht sich dagegen einer Mißheirat!) niemals schuldig: er verkauft seine Töchter und kauft seine Schwiegersöhne, wie wenn sichs um ebensoviele Tonnen Caviar oder Talg handelte. Die Angelegenheit wird in der Regel durch einen Makler vermittelt, der einen passenden Bräutigam oder etre annehmbare Braut besorgt, und es gilt durchaus nicht immer für nöthig oder wünschenswerth, daß die jungen Leute vor der Trauung mit einander bekannt werden. In einem Lustspiel, welches zur Zeit der Krönung des jetzigen Kaisers in Moskau sehr beliebt war, liegt der ganze Humor darin, daß ein Bräutigam seine Braut nicht eher kennen lernt als auf dem Wege zum Altar. Der Unglückliche ist in Verzweiflung, daß seine Eltern ihn nöthigen, ein Mädchen zu heirathen, das er nicht kennt, und das Mädchen, welches er liebt, nicht zur Frau zu nehmen, bis er endlich die beglückende Entdeckung macht, daß seine Braut und seine Geliebte eine und dieselbe Person sind. Welches der Geschmack der jungen Damen ist, mag ein anderes Stück, das zu den besten seiner Gattung gehört, Ostroffsti's „Swoi Ludi" zeigen. Hier wünscht sich die Tochter eines Kaufmanns, die heiratsfähig geworden, natürlich Mit einem jungen Herrn von feiner Lebensart und eleganter Tour- nüre zu vermählen. Als ein Jüngling von der Handlung erscheint und um ihre'Hand anhält, betrachtet sie ihn zunächst mit Geringschätzung, bis er end¬ lich einen leidenschaftlichen Anlauf nimmt und sich zu außerordentlichen Opfern erbietet. „Ja heiß mich selbst zu einem deutschen Schneider gehen und mir einen Modefrack kaufen (er trägt einen Kaftan), heiß mich sogar meinen Bart abscheeren (der Jüngling ist in Besitz eines artigen Exemplars), so werd' ichs thun!" ruft der Freier emphatisch aus. — „Ich verlange blos einen Beweis der Liebe," antwortet die junge Schöne. — „Was ist's?" fragt jener. — „Lernen Sie Französisch." Bekannt ist, daß eine große Anzahl der russischen Kaufleute den allgläu-. bigen Secten (Raskolniken oder Starvwerzen) angehört. Dieselben sind sehr exclusiv, starke. Gegner alles Fremdländischen und deshalb fremden Reisenden wenig zugänglich. Indeß kann man sie an öffentlichen Orten beobachten, und in Moskau ist sogar eine große Theewirthschaft (Traktir) eigens für sie bestimmt. Ueber den Glauben und die Sitten dieser Secten haben wir früher ausführ¬ lich berichtet. Die industrielle Thätigkeit Rußlands hat sich in den letzten drei Jahr-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/311>, abgerufen am 08.01.2025.