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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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Tisch hatte, dessen Töchter Melodien eins Erncmi und Rigoletto spielten und fast
so gutes Französisch als ihre Gouvernante sprachen. Nichts war lächerlich,
vieles sehr wohlanständig in dem Auftreten und Wesen dieses Kaufmanns, und
das einzige Zeichen des üblen Geschmacks, der dieser Klasse in Nußland nach¬
gesagt wird, waren die Bilder, mit denen er seine Wände behängen hatte.
Dieselben waren in der Ausführung geringer als die schlechtesten Holzschnitte,
die je in einer illustrirten Zeitung erschienen, und stellten Scenen dar wie den
Uebergang über einen Fluß im Kaukasus oder die Rache russischer Soldaten
an etlichen Türken, die just einen griechischen Priester ermordet, oder die hero¬
ischen Anstrengungen einiger russischen Matrosen, andre Türken von einem sin¬
kenden Boot zu retten, während die feindlichen Batterien am Ufer keinen
Augenblick aufhörten, nach ihnen zu feuern. Wahrscheinlich hatte der Kauf¬
mann zwei bis dreitausend Pfund auf die Einrichtung und Ausmöblirung der
Zimmer verwendet, in denen er seine Freunde empfing (sein Piano allein
mußte ihm über zweihundert gekostet haben), dagegen konnte die ganze Summe,
die er auf Bilder gewandt, kaum zehn Schillinge betragen haben. Ohne Zwei¬
fel hatten die Gegenstände der Darstellungen ihn interessirt, aber es scheint ihm
nie eingefallen zu sein, daß die Ausführung irgend welche Berücksichtigung ver¬
dienen könne. Dennoch war der Mann mit seinem rasirten Kinn und seinem
feintuchncn Anzug weit davon entfernt ein Typus seines Standes zu sein. Er
war artig, verständig, wohl unterrichtet über Alles, was den Handel Rußlands
betrifft, ein eifriger Freund der damals von Alexander dem Zweiten beabsich¬
tigten Reformen und, wie alle Russen, denen ich begegnete, stets bereit über
Politik, innere wie äußere, zu disputiren. Sicherlich werden viele von der
nächsten Generation russischer Kaufleute dieser meiner Bekanntschaft gleichen;
denn obwohl das jetzige Geschlecht der Mehrzahl nach selbst sehr wenig Unter¬
richt genossen hat, schicken sie doch ihre Söhne auf die Rcgicrungsgymnasicn,
wo man für eine geringe jährliche Summe eine recht gute Erziehung erhält.
In der Zwischenzeit ist der russische Kaufmann ein schöner Gegenstand für die
Komödie."

Fast alle die Kaufleute, welche nicht mehr den Kaftan tragen, haben eine
Art Mittelding zwischen diesem und dem gewöhnlichen europäischen Rock ange¬
nommen. Sehr wenige haben den langen Bart aufgegeben -- in der That,
nur einige reiche Mitglieder der ersten Gilde, die sich bereits halb schämen,
Kaufleute zu sein, und von denen leider anzunehmen ist, daß sie ihre Söhne
entweder die Offiziers- oder die Beamtenlaufbahn betreten lassen werden.
Diese Schwäche und Eitelkeit des Standes ist es vorzüglich, weshalb derselbe
so verachtet ist. Man blickt nicht aus engherzigen Stolz oder aus Gering¬
schätzung derer, die sich ihr Brot durch Arbeit verdienen, auf sie herab;
denn fremde Kaufleute verkehren mit dem Adel wie Gleiche mit Gleichen, und


Tisch hatte, dessen Töchter Melodien eins Erncmi und Rigoletto spielten und fast
so gutes Französisch als ihre Gouvernante sprachen. Nichts war lächerlich,
vieles sehr wohlanständig in dem Auftreten und Wesen dieses Kaufmanns, und
das einzige Zeichen des üblen Geschmacks, der dieser Klasse in Nußland nach¬
gesagt wird, waren die Bilder, mit denen er seine Wände behängen hatte.
Dieselben waren in der Ausführung geringer als die schlechtesten Holzschnitte,
die je in einer illustrirten Zeitung erschienen, und stellten Scenen dar wie den
Uebergang über einen Fluß im Kaukasus oder die Rache russischer Soldaten
an etlichen Türken, die just einen griechischen Priester ermordet, oder die hero¬
ischen Anstrengungen einiger russischen Matrosen, andre Türken von einem sin¬
kenden Boot zu retten, während die feindlichen Batterien am Ufer keinen
Augenblick aufhörten, nach ihnen zu feuern. Wahrscheinlich hatte der Kauf¬
mann zwei bis dreitausend Pfund auf die Einrichtung und Ausmöblirung der
Zimmer verwendet, in denen er seine Freunde empfing (sein Piano allein
mußte ihm über zweihundert gekostet haben), dagegen konnte die ganze Summe,
die er auf Bilder gewandt, kaum zehn Schillinge betragen haben. Ohne Zwei¬
fel hatten die Gegenstände der Darstellungen ihn interessirt, aber es scheint ihm
nie eingefallen zu sein, daß die Ausführung irgend welche Berücksichtigung ver¬
dienen könne. Dennoch war der Mann mit seinem rasirten Kinn und seinem
feintuchncn Anzug weit davon entfernt ein Typus seines Standes zu sein. Er
war artig, verständig, wohl unterrichtet über Alles, was den Handel Rußlands
betrifft, ein eifriger Freund der damals von Alexander dem Zweiten beabsich¬
tigten Reformen und, wie alle Russen, denen ich begegnete, stets bereit über
Politik, innere wie äußere, zu disputiren. Sicherlich werden viele von der
nächsten Generation russischer Kaufleute dieser meiner Bekanntschaft gleichen;
denn obwohl das jetzige Geschlecht der Mehrzahl nach selbst sehr wenig Unter¬
richt genossen hat, schicken sie doch ihre Söhne auf die Rcgicrungsgymnasicn,
wo man für eine geringe jährliche Summe eine recht gute Erziehung erhält.
In der Zwischenzeit ist der russische Kaufmann ein schöner Gegenstand für die
Komödie."

Fast alle die Kaufleute, welche nicht mehr den Kaftan tragen, haben eine
Art Mittelding zwischen diesem und dem gewöhnlichen europäischen Rock ange¬
nommen. Sehr wenige haben den langen Bart aufgegeben — in der That,
nur einige reiche Mitglieder der ersten Gilde, die sich bereits halb schämen,
Kaufleute zu sein, und von denen leider anzunehmen ist, daß sie ihre Söhne
entweder die Offiziers- oder die Beamtenlaufbahn betreten lassen werden.
Diese Schwäche und Eitelkeit des Standes ist es vorzüglich, weshalb derselbe
so verachtet ist. Man blickt nicht aus engherzigen Stolz oder aus Gering¬
schätzung derer, die sich ihr Brot durch Arbeit verdienen, auf sie herab;
denn fremde Kaufleute verkehren mit dem Adel wie Gleiche mit Gleichen, und


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[0309] Tisch hatte, dessen Töchter Melodien eins Erncmi und Rigoletto spielten und fast so gutes Französisch als ihre Gouvernante sprachen. Nichts war lächerlich, vieles sehr wohlanständig in dem Auftreten und Wesen dieses Kaufmanns, und das einzige Zeichen des üblen Geschmacks, der dieser Klasse in Nußland nach¬ gesagt wird, waren die Bilder, mit denen er seine Wände behängen hatte. Dieselben waren in der Ausführung geringer als die schlechtesten Holzschnitte, die je in einer illustrirten Zeitung erschienen, und stellten Scenen dar wie den Uebergang über einen Fluß im Kaukasus oder die Rache russischer Soldaten an etlichen Türken, die just einen griechischen Priester ermordet, oder die hero¬ ischen Anstrengungen einiger russischen Matrosen, andre Türken von einem sin¬ kenden Boot zu retten, während die feindlichen Batterien am Ufer keinen Augenblick aufhörten, nach ihnen zu feuern. Wahrscheinlich hatte der Kauf¬ mann zwei bis dreitausend Pfund auf die Einrichtung und Ausmöblirung der Zimmer verwendet, in denen er seine Freunde empfing (sein Piano allein mußte ihm über zweihundert gekostet haben), dagegen konnte die ganze Summe, die er auf Bilder gewandt, kaum zehn Schillinge betragen haben. Ohne Zwei¬ fel hatten die Gegenstände der Darstellungen ihn interessirt, aber es scheint ihm nie eingefallen zu sein, daß die Ausführung irgend welche Berücksichtigung ver¬ dienen könne. Dennoch war der Mann mit seinem rasirten Kinn und seinem feintuchncn Anzug weit davon entfernt ein Typus seines Standes zu sein. Er war artig, verständig, wohl unterrichtet über Alles, was den Handel Rußlands betrifft, ein eifriger Freund der damals von Alexander dem Zweiten beabsich¬ tigten Reformen und, wie alle Russen, denen ich begegnete, stets bereit über Politik, innere wie äußere, zu disputiren. Sicherlich werden viele von der nächsten Generation russischer Kaufleute dieser meiner Bekanntschaft gleichen; denn obwohl das jetzige Geschlecht der Mehrzahl nach selbst sehr wenig Unter¬ richt genossen hat, schicken sie doch ihre Söhne auf die Rcgicrungsgymnasicn, wo man für eine geringe jährliche Summe eine recht gute Erziehung erhält. In der Zwischenzeit ist der russische Kaufmann ein schöner Gegenstand für die Komödie." Fast alle die Kaufleute, welche nicht mehr den Kaftan tragen, haben eine Art Mittelding zwischen diesem und dem gewöhnlichen europäischen Rock ange¬ nommen. Sehr wenige haben den langen Bart aufgegeben — in der That, nur einige reiche Mitglieder der ersten Gilde, die sich bereits halb schämen, Kaufleute zu sein, und von denen leider anzunehmen ist, daß sie ihre Söhne entweder die Offiziers- oder die Beamtenlaufbahn betreten lassen werden. Diese Schwäche und Eitelkeit des Standes ist es vorzüglich, weshalb derselbe so verachtet ist. Man blickt nicht aus engherzigen Stolz oder aus Gering¬ schätzung derer, die sich ihr Brot durch Arbeit verdienen, auf sie herab; denn fremde Kaufleute verkehren mit dem Adel wie Gleiche mit Gleichen, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/309>, abgerufen am 08.01.2025.