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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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"neue Rußland" Alexanders des Zweiten. Da er indeß Einiges zu günstig
beurtheilt und überhaupt als Engländer mit andern Augen sieht, als w,ir, so
werden wir uns erlauben müssen, unsre Auszüge gewissermaßen doppelt zu
übersetzen, nicht blos aus der fremden Sprache, sondern auch theilweise aus der
uns fremden Anschauung oder richtiger Beleuchtung der Dinge.

Wir geben zunächst eine Zusammenstellung dessen, was Edwards in ver¬
schiedenen Kapiteln seines Buchs über die russische Gesellschaft im Allgemeinen
sagt, und lassen dann Mittheilungen aus dem folgen, was er von den einzel¬
nen Klassen derselben, namentlich von den Vertretern der Literatur und der
Presse überhaupt, von den Beamten, Geistlichen und andern erzählt. Eine er¬
schöpfende Schilderung der socialen Verhältnisse im Czarcnreich ist damit nicht
beabsichtigt.

Vom niedern Volk abgesehen, kommen in den Städten Rußlands vorzüg¬
lich drei Klassen der Gesellschaft in Betracht: der Geburth- und Amtsadel, die
Schriftsteller, die Künstler und die Kaufleute. Die Schriftsteller fallen zum
Theil durch Geburt, zum Theil durch bedeutendes Talent mit der vornehmen
Welt zusammen. Von den Künstlern gilt dies nur in seltenen Fällen. Ein
Maler wie Brulvff wird allerdings dieselbe Stellung einnehmen wie Puschkin;
aber Rußland hat manchen hervorragenden Dichter und nur wenig beachtens-
werthe Maler hervorgebracht, und so ist es gekommen, daß es für ein Mit¬
glied der guten Gesellschaft sich nicht schickt, sich, ausgenommen der Erholung
und Zerstreuung halber, mit Kunst zu beschäftigen. Sehr viele Adelige ver¬
öffentlichen Bücher, keiner stellt Gemälde aus. So wird es wiederum Schrift¬
stellern aus der Mittelklasse bei nur einiger Begabung leicht, Künstlern aus die¬
ser Klasse selbst bei beträchtlicher Begabung schwer, Zutritt zur vornehmen
Welt zu erlangen, und so bilden letztere einen Gesellschaftskreis für sich, der,
wenn er einerseits mit" dem Adel wenig in Berührung kommt, sich iandrerscits
doch auch nicht mit den Kaufleuten einlassen mag, welche für den Mann von
Genius ungefähr da,s, sind, was der Philister für den deutschen Studenten ist,
und die mit ihrer Geldgier, ihrem Großthun und ihren ungeschickten Manieren
der russischen Satiren- und Possenliteratur nächst den Beamten zur Haupt¬
zielscheibe für ihre Witze dienen.

In Rußland ist ein großer Unterschied zwischen dem Theil der Gesellschaft,
der Anspruch auf die Bezeichnung "Gentleman" hat, und dem Kaufmanns¬
stand. Vor zwanzig Iahrcy drückte sich dieser Unterschied sogar noch durch die
Tracht aus. Damals trugen die reichsten Kaufleute noch lange Bärte, Kaftane
und Bastschuhe. "Dies ist", sagt Edwards, "jetzt allerdings nicht mehr der
Fall, und ich selbst habe in Moskau bei einem Kaufmann erster Gilde gespeist,
dessen Kleider dem. berühmtesten Schneider von London oder Paris Ehre ge¬
macht hätten, welcher drei oder vier Sorten französischen Rothwein auf dem


„neue Rußland" Alexanders des Zweiten. Da er indeß Einiges zu günstig
beurtheilt und überhaupt als Engländer mit andern Augen sieht, als w,ir, so
werden wir uns erlauben müssen, unsre Auszüge gewissermaßen doppelt zu
übersetzen, nicht blos aus der fremden Sprache, sondern auch theilweise aus der
uns fremden Anschauung oder richtiger Beleuchtung der Dinge.

Wir geben zunächst eine Zusammenstellung dessen, was Edwards in ver¬
schiedenen Kapiteln seines Buchs über die russische Gesellschaft im Allgemeinen
sagt, und lassen dann Mittheilungen aus dem folgen, was er von den einzel¬
nen Klassen derselben, namentlich von den Vertretern der Literatur und der
Presse überhaupt, von den Beamten, Geistlichen und andern erzählt. Eine er¬
schöpfende Schilderung der socialen Verhältnisse im Czarcnreich ist damit nicht
beabsichtigt.

Vom niedern Volk abgesehen, kommen in den Städten Rußlands vorzüg¬
lich drei Klassen der Gesellschaft in Betracht: der Geburth- und Amtsadel, die
Schriftsteller, die Künstler und die Kaufleute. Die Schriftsteller fallen zum
Theil durch Geburt, zum Theil durch bedeutendes Talent mit der vornehmen
Welt zusammen. Von den Künstlern gilt dies nur in seltenen Fällen. Ein
Maler wie Brulvff wird allerdings dieselbe Stellung einnehmen wie Puschkin;
aber Rußland hat manchen hervorragenden Dichter und nur wenig beachtens-
werthe Maler hervorgebracht, und so ist es gekommen, daß es für ein Mit¬
glied der guten Gesellschaft sich nicht schickt, sich, ausgenommen der Erholung
und Zerstreuung halber, mit Kunst zu beschäftigen. Sehr viele Adelige ver¬
öffentlichen Bücher, keiner stellt Gemälde aus. So wird es wiederum Schrift¬
stellern aus der Mittelklasse bei nur einiger Begabung leicht, Künstlern aus die¬
ser Klasse selbst bei beträchtlicher Begabung schwer, Zutritt zur vornehmen
Welt zu erlangen, und so bilden letztere einen Gesellschaftskreis für sich, der,
wenn er einerseits mit" dem Adel wenig in Berührung kommt, sich iandrerscits
doch auch nicht mit den Kaufleuten einlassen mag, welche für den Mann von
Genius ungefähr da,s, sind, was der Philister für den deutschen Studenten ist,
und die mit ihrer Geldgier, ihrem Großthun und ihren ungeschickten Manieren
der russischen Satiren- und Possenliteratur nächst den Beamten zur Haupt¬
zielscheibe für ihre Witze dienen.

In Rußland ist ein großer Unterschied zwischen dem Theil der Gesellschaft,
der Anspruch auf die Bezeichnung „Gentleman" hat, und dem Kaufmanns¬
stand. Vor zwanzig Iahrcy drückte sich dieser Unterschied sogar noch durch die
Tracht aus. Damals trugen die reichsten Kaufleute noch lange Bärte, Kaftane
und Bastschuhe. „Dies ist", sagt Edwards, „jetzt allerdings nicht mehr der
Fall, und ich selbst habe in Moskau bei einem Kaufmann erster Gilde gespeist,
dessen Kleider dem. berühmtesten Schneider von London oder Paris Ehre ge¬
macht hätten, welcher drei oder vier Sorten französischen Rothwein auf dem


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[0308] „neue Rußland" Alexanders des Zweiten. Da er indeß Einiges zu günstig beurtheilt und überhaupt als Engländer mit andern Augen sieht, als w,ir, so werden wir uns erlauben müssen, unsre Auszüge gewissermaßen doppelt zu übersetzen, nicht blos aus der fremden Sprache, sondern auch theilweise aus der uns fremden Anschauung oder richtiger Beleuchtung der Dinge. Wir geben zunächst eine Zusammenstellung dessen, was Edwards in ver¬ schiedenen Kapiteln seines Buchs über die russische Gesellschaft im Allgemeinen sagt, und lassen dann Mittheilungen aus dem folgen, was er von den einzel¬ nen Klassen derselben, namentlich von den Vertretern der Literatur und der Presse überhaupt, von den Beamten, Geistlichen und andern erzählt. Eine er¬ schöpfende Schilderung der socialen Verhältnisse im Czarcnreich ist damit nicht beabsichtigt. Vom niedern Volk abgesehen, kommen in den Städten Rußlands vorzüg¬ lich drei Klassen der Gesellschaft in Betracht: der Geburth- und Amtsadel, die Schriftsteller, die Künstler und die Kaufleute. Die Schriftsteller fallen zum Theil durch Geburt, zum Theil durch bedeutendes Talent mit der vornehmen Welt zusammen. Von den Künstlern gilt dies nur in seltenen Fällen. Ein Maler wie Brulvff wird allerdings dieselbe Stellung einnehmen wie Puschkin; aber Rußland hat manchen hervorragenden Dichter und nur wenig beachtens- werthe Maler hervorgebracht, und so ist es gekommen, daß es für ein Mit¬ glied der guten Gesellschaft sich nicht schickt, sich, ausgenommen der Erholung und Zerstreuung halber, mit Kunst zu beschäftigen. Sehr viele Adelige ver¬ öffentlichen Bücher, keiner stellt Gemälde aus. So wird es wiederum Schrift¬ stellern aus der Mittelklasse bei nur einiger Begabung leicht, Künstlern aus die¬ ser Klasse selbst bei beträchtlicher Begabung schwer, Zutritt zur vornehmen Welt zu erlangen, und so bilden letztere einen Gesellschaftskreis für sich, der, wenn er einerseits mit" dem Adel wenig in Berührung kommt, sich iandrerscits doch auch nicht mit den Kaufleuten einlassen mag, welche für den Mann von Genius ungefähr da,s, sind, was der Philister für den deutschen Studenten ist, und die mit ihrer Geldgier, ihrem Großthun und ihren ungeschickten Manieren der russischen Satiren- und Possenliteratur nächst den Beamten zur Haupt¬ zielscheibe für ihre Witze dienen. In Rußland ist ein großer Unterschied zwischen dem Theil der Gesellschaft, der Anspruch auf die Bezeichnung „Gentleman" hat, und dem Kaufmanns¬ stand. Vor zwanzig Iahrcy drückte sich dieser Unterschied sogar noch durch die Tracht aus. Damals trugen die reichsten Kaufleute noch lange Bärte, Kaftane und Bastschuhe. „Dies ist", sagt Edwards, „jetzt allerdings nicht mehr der Fall, und ich selbst habe in Moskau bei einem Kaufmann erster Gilde gespeist, dessen Kleider dem. berühmtesten Schneider von London oder Paris Ehre ge¬ macht hätten, welcher drei oder vier Sorten französischen Rothwein auf dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/308>, abgerufen am 06.01.2025.