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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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sobald er in sich uneinig, sobald er in seiner Erkenntniß unreif ist. Daß es
in der großen liberalen Partei Fraktionen gibt, die sich befehden, hängt mit
der Unreife unsrer Erkenntniß zusammen. Es muß jetzt laut und nachdrücklich
gesagt werden, daß keine der beiden liberalen Fractionen, von der andern ver¬
lassen oder gar bekämpft, die Reaction siegreich zu brechen vermag. In den
Perioden ansteigender Bewegung, welche in einer Epoche der fortschreitenden
Volksentwickelung mit denen der Erschlaffung fast wie Ebbe und Fluth wechseln,
wird es dem zuversichtlichsten Theil der Bewegungspartei sehr leicht, den Schein
eines einheitlichen Volkswillens hervorzurufen und auf seine Seite zu bringen.
Man braucht nur das Ziel der Entwickelung, deren Nothwendigkeit und Un¬
aufhaltsamkeit periodisch dem allgemeinen Gefühl lebhaft gegenwärtig sind, diesem
Gefühl mittelst einer der Phantasie verständlichen Allgemeinheit anzupassen und
in wirksam geprägten Stichwörtern hinzustellen. Dieser Volkswille ist aber
keineswegs der wahrhaft einheitliche und unwiderstehliche. Er zerfällt bei der
Unbestimmtheit seines Inhalts jedesmal, sobald die concrete Form, ihn auszu¬
drücken, erkannt und behauptet werden soll, in die Atome, aus denen er sich
zusammensetzt. Nur für Dinge, deren Wahrheit eine bestimmt erlebte oder völ¬
lig klar begriffene ist. kann ein einheitlicher VMswille sich erheben. Einem
künstlich, durch ein geschickt redigirtes Programm hervorgerufenen Volkswillen
würde in ernster Stunde die ruhige, unbestechliche Ueberzeugung hellsehender
Männer fehlen, würde im eigenen Lager die Eintracht verloren gehen, würde
bald die nachhaltige Folgsamkeit der großen Zahl versagen.

Fürs Erste sind die Reformparteien auf Abwehr und Erhaltung beschränkt,
und gegenüber der drängenden Gefahr ist es leicht, die Zwistigkeiten zu ver¬
tagen. Die Gefahr der preußischen und damit der deutschen Reform liegt aber
darin, daß die liberalen Parteien sich noch jedesmal veruneinigt haben, wenn
ihnen Gelegenheit geboten war, das Werk der Reform positiv zu beginnen.
Während, d er V erth eidigungs coalition, welche die liberalen Par¬
teien jetzt nothgedrungen werden schließen müssen, muß der Grund
zu einer positiven Verständigung für die Zukunft gelegt werden.
Dies ist die Pflicht, welche der jetzige Augenblick gereift hat, und von deren
Erfüllung die Zukunft abhängt.

Mag die Fraction Grabow im nächsten Abgeordnetenhause an Zahl groß
oder klein sein, sie wird den andern Liberalen gegenüber in allen formalen
Dingen ein entgegenkommendes Verhalten zu beobachten haben, ohne die Er¬
widerung ängstlich abzumessen und namentlich ohne die Initiative von der
andern Seite zu erwarten. Sollte ihre Zahl eine erheblich geringere sein gegen
frühere Sessionen, so wird dies ihren Einfluß noch durchaus nicht mindern.
Sollte die Fortschrittspartei diesmal die Majorität unter den liberalen Frac-
tionen bilden, so wird dieselbe gar sehr die Verantwortlichkeit dieser Stellung


sobald er in sich uneinig, sobald er in seiner Erkenntniß unreif ist. Daß es
in der großen liberalen Partei Fraktionen gibt, die sich befehden, hängt mit
der Unreife unsrer Erkenntniß zusammen. Es muß jetzt laut und nachdrücklich
gesagt werden, daß keine der beiden liberalen Fractionen, von der andern ver¬
lassen oder gar bekämpft, die Reaction siegreich zu brechen vermag. In den
Perioden ansteigender Bewegung, welche in einer Epoche der fortschreitenden
Volksentwickelung mit denen der Erschlaffung fast wie Ebbe und Fluth wechseln,
wird es dem zuversichtlichsten Theil der Bewegungspartei sehr leicht, den Schein
eines einheitlichen Volkswillens hervorzurufen und auf seine Seite zu bringen.
Man braucht nur das Ziel der Entwickelung, deren Nothwendigkeit und Un¬
aufhaltsamkeit periodisch dem allgemeinen Gefühl lebhaft gegenwärtig sind, diesem
Gefühl mittelst einer der Phantasie verständlichen Allgemeinheit anzupassen und
in wirksam geprägten Stichwörtern hinzustellen. Dieser Volkswille ist aber
keineswegs der wahrhaft einheitliche und unwiderstehliche. Er zerfällt bei der
Unbestimmtheit seines Inhalts jedesmal, sobald die concrete Form, ihn auszu¬
drücken, erkannt und behauptet werden soll, in die Atome, aus denen er sich
zusammensetzt. Nur für Dinge, deren Wahrheit eine bestimmt erlebte oder völ¬
lig klar begriffene ist. kann ein einheitlicher VMswille sich erheben. Einem
künstlich, durch ein geschickt redigirtes Programm hervorgerufenen Volkswillen
würde in ernster Stunde die ruhige, unbestechliche Ueberzeugung hellsehender
Männer fehlen, würde im eigenen Lager die Eintracht verloren gehen, würde
bald die nachhaltige Folgsamkeit der großen Zahl versagen.

Fürs Erste sind die Reformparteien auf Abwehr und Erhaltung beschränkt,
und gegenüber der drängenden Gefahr ist es leicht, die Zwistigkeiten zu ver¬
tagen. Die Gefahr der preußischen und damit der deutschen Reform liegt aber
darin, daß die liberalen Parteien sich noch jedesmal veruneinigt haben, wenn
ihnen Gelegenheit geboten war, das Werk der Reform positiv zu beginnen.
Während, d er V erth eidigungs coalition, welche die liberalen Par¬
teien jetzt nothgedrungen werden schließen müssen, muß der Grund
zu einer positiven Verständigung für die Zukunft gelegt werden.
Dies ist die Pflicht, welche der jetzige Augenblick gereift hat, und von deren
Erfüllung die Zukunft abhängt.

Mag die Fraction Grabow im nächsten Abgeordnetenhause an Zahl groß
oder klein sein, sie wird den andern Liberalen gegenüber in allen formalen
Dingen ein entgegenkommendes Verhalten zu beobachten haben, ohne die Er¬
widerung ängstlich abzumessen und namentlich ohne die Initiative von der
andern Seite zu erwarten. Sollte ihre Zahl eine erheblich geringere sein gegen
frühere Sessionen, so wird dies ihren Einfluß noch durchaus nicht mindern.
Sollte die Fortschrittspartei diesmal die Majorität unter den liberalen Frac-
tionen bilden, so wird dieselbe gar sehr die Verantwortlichkeit dieser Stellung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/268>, abgerufen am 06.01.2025.