Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

auch den Theil der savoyischen Schuld nicht übernehmen werde. Somit müsse
Alles einen kleineren Maaßstab annehmen: Tribunale, Administration, öffent¬
liche Arbeiten ze. Die jungen Leute würden gar keine Carriere vor sich haben.
Und für die Savoyarden, die schon in Frankreich leben, würde sich Alles besser
stellen, wenn sie cito^uti krautziris würden. Und endlich:

8) ein letzter, unwiderleglicher Grund widersetzt sich der Annexion Sa-
voyens an die Schweiz und der Neutralisirung seiner nördlichen Provinzen. --
ein politischer Grund von der höchsten Wichtigkeit, der durch den vereinten
Willen von Frankreich und Italien zur siegreichen Geltung gebracht werden
muß. Wenn nämlich Oberitalien seine Unabhängigkeit herstellen und sie auf
soliden Grundlagen befestigen will, muß es der Verbündete Frankreichs gegen
Oestreich sein. Die Neutralisirung Savoyens, oder seine Constituirung als hel¬
vetischer Canton schaffen ein bedeutendes Hinderniß gegen die Operationen,
welche ein solches Bündniß nothwendig stets im Fall eines Krieges herbeiführt.
Zu einer ewigen Allianz berufen durch die Vereinigung ihrer glorreichen Dyna¬
stien, durch die gegenseitigen Sympathien ihrer Bevölkerung, durch ihre glei¬
chen Interessen, dürfen Frankreich und Italien nicht zugeben, daß sich zwischen
sie ein neutrales Land ausdehnt, um sie zu trennen. Das wäre eine Demü¬
thigung, der sie sich nicht aussetzen dürfen; sie müssen vielmehr einander so
nahe als möglich sein, um sich jeden bewaffneten Beistand leisten zu können.
Binnen Kurzem verbunden durch die Eisenbahn, die den Schooß der Alpen
durchdringt, werden diese beiden Nationen von 60 Millionen Einwohnern un¬
überwindlich sein. Die civilisirenden Principien, welche sie bekennen, unterstützt
von der Einigkeit, welche die Macht ist, werden das Glück Europa's, das Glück
der ganzen Welt begründen!

Gut gebrüllt, Löwe! Gegen solche Gründe müssen freilich die Principien
des Rechts und die Forderungen der wahren Wohlfahrt der einzelnen Landes-
theile in Nichts zerfallen!

Wir aber finden in allem diesem eine Aufforderung uns der Vergangenheit
zu erinnern, weil sie uns aus die Zukunft vorbereitet. Im Jahre 1792 erfolgte
der Anschluß Savoyens an Frankreich; -- im Jahre 1798 der Anschluß Genfs;
-- im Jahre 1802 der Anschluß des Canton Wallis! -- Nach der Einver-
leibung Savoyens ist Genf nichts mehr und nichts weniger als eine Enclave
des übermächtigen Nachbarn, dessen freundnachbarliche Gesinnung und wohlwol¬
lende Rücksichtnahme in den beiden Fragen des Dappenthals und der Affaire
von Ville la Grande schon jetzt charakteristisch genug an den Tag getreten sind.

Die wiederholte Betheuerung, "die Schweiz sei moralisch durch ihre Neutrali¬
tätgeschützt", ist eine hohle Phrase; wenn heute die in Genf lebenden 15,000
Savoyer, die nunmehr Franzosen geworden sind, mit Zuziehung der übrigen
dort domicilirten vier bis fünftausend Franzosen in den Straßen Genfs rufen:


auch den Theil der savoyischen Schuld nicht übernehmen werde. Somit müsse
Alles einen kleineren Maaßstab annehmen: Tribunale, Administration, öffent¬
liche Arbeiten ze. Die jungen Leute würden gar keine Carriere vor sich haben.
Und für die Savoyarden, die schon in Frankreich leben, würde sich Alles besser
stellen, wenn sie cito^uti krautziris würden. Und endlich:

8) ein letzter, unwiderleglicher Grund widersetzt sich der Annexion Sa-
voyens an die Schweiz und der Neutralisirung seiner nördlichen Provinzen. —
ein politischer Grund von der höchsten Wichtigkeit, der durch den vereinten
Willen von Frankreich und Italien zur siegreichen Geltung gebracht werden
muß. Wenn nämlich Oberitalien seine Unabhängigkeit herstellen und sie auf
soliden Grundlagen befestigen will, muß es der Verbündete Frankreichs gegen
Oestreich sein. Die Neutralisirung Savoyens, oder seine Constituirung als hel¬
vetischer Canton schaffen ein bedeutendes Hinderniß gegen die Operationen,
welche ein solches Bündniß nothwendig stets im Fall eines Krieges herbeiführt.
Zu einer ewigen Allianz berufen durch die Vereinigung ihrer glorreichen Dyna¬
stien, durch die gegenseitigen Sympathien ihrer Bevölkerung, durch ihre glei¬
chen Interessen, dürfen Frankreich und Italien nicht zugeben, daß sich zwischen
sie ein neutrales Land ausdehnt, um sie zu trennen. Das wäre eine Demü¬
thigung, der sie sich nicht aussetzen dürfen; sie müssen vielmehr einander so
nahe als möglich sein, um sich jeden bewaffneten Beistand leisten zu können.
Binnen Kurzem verbunden durch die Eisenbahn, die den Schooß der Alpen
durchdringt, werden diese beiden Nationen von 60 Millionen Einwohnern un¬
überwindlich sein. Die civilisirenden Principien, welche sie bekennen, unterstützt
von der Einigkeit, welche die Macht ist, werden das Glück Europa's, das Glück
der ganzen Welt begründen!

Gut gebrüllt, Löwe! Gegen solche Gründe müssen freilich die Principien
des Rechts und die Forderungen der wahren Wohlfahrt der einzelnen Landes-
theile in Nichts zerfallen!

Wir aber finden in allem diesem eine Aufforderung uns der Vergangenheit
zu erinnern, weil sie uns aus die Zukunft vorbereitet. Im Jahre 1792 erfolgte
der Anschluß Savoyens an Frankreich; — im Jahre 1798 der Anschluß Genfs;
— im Jahre 1802 der Anschluß des Canton Wallis! — Nach der Einver-
leibung Savoyens ist Genf nichts mehr und nichts weniger als eine Enclave
des übermächtigen Nachbarn, dessen freundnachbarliche Gesinnung und wohlwol¬
lende Rücksichtnahme in den beiden Fragen des Dappenthals und der Affaire
von Ville la Grande schon jetzt charakteristisch genug an den Tag getreten sind.

Die wiederholte Betheuerung, „die Schweiz sei moralisch durch ihre Neutrali¬
tätgeschützt", ist eine hohle Phrase; wenn heute die in Genf lebenden 15,000
Savoyer, die nunmehr Franzosen geworden sind, mit Zuziehung der übrigen
dort domicilirten vier bis fünftausend Franzosen in den Straßen Genfs rufen:


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0266" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/114046"/>
          <p xml:id="ID_778" prev="#ID_777"> auch den Theil der savoyischen Schuld nicht übernehmen werde. Somit müsse<lb/>
Alles einen kleineren Maaßstab annehmen: Tribunale, Administration, öffent¬<lb/>
liche Arbeiten ze. Die jungen Leute würden gar keine Carriere vor sich haben.<lb/>
Und für die Savoyarden, die schon in Frankreich leben, würde sich Alles besser<lb/>
stellen, wenn sie cito^uti krautziris würden.  Und endlich:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_779"> 8) ein letzter, unwiderleglicher Grund widersetzt sich der Annexion Sa-<lb/>
voyens an die Schweiz und der Neutralisirung seiner nördlichen Provinzen. &#x2014;<lb/>
ein politischer Grund von der höchsten Wichtigkeit, der durch den vereinten<lb/>
Willen von Frankreich und Italien zur siegreichen Geltung gebracht werden<lb/>
muß. Wenn nämlich Oberitalien seine Unabhängigkeit herstellen und sie auf<lb/>
soliden Grundlagen befestigen will, muß es der Verbündete Frankreichs gegen<lb/>
Oestreich sein. Die Neutralisirung Savoyens, oder seine Constituirung als hel¬<lb/>
vetischer Canton schaffen ein bedeutendes Hinderniß gegen die Operationen,<lb/>
welche ein solches Bündniß nothwendig stets im Fall eines Krieges herbeiführt.<lb/>
Zu einer ewigen Allianz berufen durch die Vereinigung ihrer glorreichen Dyna¬<lb/>
stien, durch die gegenseitigen Sympathien ihrer Bevölkerung, durch ihre glei¬<lb/>
chen Interessen, dürfen Frankreich und Italien nicht zugeben, daß sich zwischen<lb/>
sie ein neutrales Land ausdehnt, um sie zu trennen. Das wäre eine Demü¬<lb/>
thigung, der sie sich nicht aussetzen dürfen; sie müssen vielmehr einander so<lb/>
nahe als möglich sein, um sich jeden bewaffneten Beistand leisten zu können.<lb/>
Binnen Kurzem verbunden durch die Eisenbahn, die den Schooß der Alpen<lb/>
durchdringt, werden diese beiden Nationen von 60 Millionen Einwohnern un¬<lb/>
überwindlich sein. Die civilisirenden Principien, welche sie bekennen, unterstützt<lb/>
von der Einigkeit, welche die Macht ist, werden das Glück Europa's, das Glück<lb/>
der ganzen Welt begründen!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_780"> Gut gebrüllt, Löwe! Gegen solche Gründe müssen freilich die Principien<lb/>
des Rechts und die Forderungen der wahren Wohlfahrt der einzelnen Landes-<lb/>
theile in Nichts zerfallen!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_781"> Wir aber finden in allem diesem eine Aufforderung uns der Vergangenheit<lb/>
zu erinnern, weil sie uns aus die Zukunft vorbereitet. Im Jahre 1792 erfolgte<lb/>
der Anschluß Savoyens an Frankreich; &#x2014; im Jahre 1798 der Anschluß Genfs;<lb/>
&#x2014; im Jahre 1802 der Anschluß des Canton Wallis! &#x2014; Nach der Einver-<lb/>
leibung Savoyens ist Genf nichts mehr und nichts weniger als eine Enclave<lb/>
des übermächtigen Nachbarn, dessen freundnachbarliche Gesinnung und wohlwol¬<lb/>
lende Rücksichtnahme in den beiden Fragen des Dappenthals und der Affaire<lb/>
von Ville la Grande schon jetzt charakteristisch genug an den Tag getreten sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_782" next="#ID_783"> Die wiederholte Betheuerung, &#x201E;die Schweiz sei moralisch durch ihre Neutrali¬<lb/>
tätgeschützt", ist eine hohle Phrase; wenn heute die in Genf lebenden 15,000<lb/>
Savoyer, die nunmehr Franzosen geworden sind, mit Zuziehung der übrigen<lb/>
dort domicilirten vier bis fünftausend Franzosen in den Straßen Genfs rufen:</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0266] auch den Theil der savoyischen Schuld nicht übernehmen werde. Somit müsse Alles einen kleineren Maaßstab annehmen: Tribunale, Administration, öffent¬ liche Arbeiten ze. Die jungen Leute würden gar keine Carriere vor sich haben. Und für die Savoyarden, die schon in Frankreich leben, würde sich Alles besser stellen, wenn sie cito^uti krautziris würden. Und endlich: 8) ein letzter, unwiderleglicher Grund widersetzt sich der Annexion Sa- voyens an die Schweiz und der Neutralisirung seiner nördlichen Provinzen. — ein politischer Grund von der höchsten Wichtigkeit, der durch den vereinten Willen von Frankreich und Italien zur siegreichen Geltung gebracht werden muß. Wenn nämlich Oberitalien seine Unabhängigkeit herstellen und sie auf soliden Grundlagen befestigen will, muß es der Verbündete Frankreichs gegen Oestreich sein. Die Neutralisirung Savoyens, oder seine Constituirung als hel¬ vetischer Canton schaffen ein bedeutendes Hinderniß gegen die Operationen, welche ein solches Bündniß nothwendig stets im Fall eines Krieges herbeiführt. Zu einer ewigen Allianz berufen durch die Vereinigung ihrer glorreichen Dyna¬ stien, durch die gegenseitigen Sympathien ihrer Bevölkerung, durch ihre glei¬ chen Interessen, dürfen Frankreich und Italien nicht zugeben, daß sich zwischen sie ein neutrales Land ausdehnt, um sie zu trennen. Das wäre eine Demü¬ thigung, der sie sich nicht aussetzen dürfen; sie müssen vielmehr einander so nahe als möglich sein, um sich jeden bewaffneten Beistand leisten zu können. Binnen Kurzem verbunden durch die Eisenbahn, die den Schooß der Alpen durchdringt, werden diese beiden Nationen von 60 Millionen Einwohnern un¬ überwindlich sein. Die civilisirenden Principien, welche sie bekennen, unterstützt von der Einigkeit, welche die Macht ist, werden das Glück Europa's, das Glück der ganzen Welt begründen! Gut gebrüllt, Löwe! Gegen solche Gründe müssen freilich die Principien des Rechts und die Forderungen der wahren Wohlfahrt der einzelnen Landes- theile in Nichts zerfallen! Wir aber finden in allem diesem eine Aufforderung uns der Vergangenheit zu erinnern, weil sie uns aus die Zukunft vorbereitet. Im Jahre 1792 erfolgte der Anschluß Savoyens an Frankreich; — im Jahre 1798 der Anschluß Genfs; — im Jahre 1802 der Anschluß des Canton Wallis! — Nach der Einver- leibung Savoyens ist Genf nichts mehr und nichts weniger als eine Enclave des übermächtigen Nachbarn, dessen freundnachbarliche Gesinnung und wohlwol¬ lende Rücksichtnahme in den beiden Fragen des Dappenthals und der Affaire von Ville la Grande schon jetzt charakteristisch genug an den Tag getreten sind. Die wiederholte Betheuerung, „die Schweiz sei moralisch durch ihre Neutrali¬ tätgeschützt", ist eine hohle Phrase; wenn heute die in Genf lebenden 15,000 Savoyer, die nunmehr Franzosen geworden sind, mit Zuziehung der übrigen dort domicilirten vier bis fünftausend Franzosen in den Straßen Genfs rufen:

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/266
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/266>, abgerufen am 06.01.2025.