Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.Nichtanerkennung seiner werthvolleren Leistungen nur gesteigerten und zugleich Herr Gwinner freilich erklärt sich das anders. Ihm ist Schopenhauer ein Wir halten uns nicht damit auf, diese wundersame Anschauung vom Wesen Nichtanerkennung seiner werthvolleren Leistungen nur gesteigerten und zugleich Herr Gwinner freilich erklärt sich das anders. Ihm ist Schopenhauer ein Wir halten uns nicht damit auf, diese wundersame Anschauung vom Wesen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0194" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/113974"/> <p xml:id="ID_532" prev="#ID_531"> Nichtanerkennung seiner werthvolleren Leistungen nur gesteigerten und zugleich<lb/> verbitterten Selbstüberhebung überwuchert, von angeborner Melancholie ver¬<lb/> dunkelt, in Pessimismus und Quietismus, Weltschmerz und eine barocke, bis¬<lb/> weilen geradezu komische, auf alle Fälle bemitleidenswerthe Menschenverachtung<lb/> umschlug.</p><lb/> <p xml:id="ID_533"> Herr Gwinner freilich erklärt sich das anders. Ihm ist Schopenhauer ein<lb/> Genie, und ein Genie muß sich in der Welt fremd und einsam fühlen, sich<lb/> des Gegensatzes zu ihr bewußt sein. „Dle geniale Individualität löst ihren<lb/> vorweltlichen Rapport niemals völlig, setzt ihrer Entfaltung in dieser Welt An¬<lb/> fangs den zähesten Widerstand entgegen, knüpft nur scheu und ungelenk jedes<lb/> neue Verhältniß an, dessen tiefere Wirkung sie instinctiv voraussieht und fürch¬<lb/> tet, und bewahrt sich so länger die ursprüngliche Form des Gemüths, die uns<lb/> aus den seligen Augen der Kindheit anlacht. Daher sieht sich dem den sichern<lb/> Schatz im Herzen tragenden Genius das Spiel des Lebens nur in der Vor¬<lb/> stellung leichter an, im Willen aber schwerer, und der wehmüthige Blick, den<lb/> er, je weiter er im Leben fortschreitet, desto sehnsüchtiger nach der entschwin¬<lb/> denden Kindheit zurückwirft, ist der Ausdruck des Gefühls dieser unüberwind¬<lb/> lichen Schwere des Daseins." — Dem künstlerischen Genius „gelingt es eher,<lb/> sich zurechtzusetzen mit der Welt, die des Schönen so viel hat, und wenn er jci<lb/> verzagen wollte, strömt er sein Herzblut in Bild und Gedicht aus, deren Schein<lb/> die fehlende Wirklichkeit des Ideals für Augenblicke vergessen läßt. Da¬<lb/> gegen der arme einsame Denker, dem kein Gott gab, zu sagen, was er lei¬<lb/> det, zieht sich scheu zurück aus dem regen Handel dieser Welt: er eilt<lb/> vom lauten Marktplatz des Lebens wie ein geschlagenes Kind, aus Furcht,<lb/> sein Alles zu verlieren, sich selbst abtrünnig werden zu müssen, wenn er sich<lb/> fügte."</p><lb/> <p xml:id="ID_534"> Wir halten uns nicht damit auf, diese wundersame Anschauung vom Wesen<lb/> des philosophischen Genies in ihrer Verkehrtheit darzustellen, und fragen nur, wie<lb/> in aller Welt paßt dieser orphische Styl zu den sehr prosaischen Mittheilungen<lb/> über Schopenhauer, die unmittelbar nachher folgen, und zunächst zu der wahr¬<lb/> haft ungeheuerlichen Feigheit unseres Weltweisen? Schon als Jüngling quälen<lb/> ihn eingebildete Krankheiten und Streithändet. Während er in Berlin studirt,<lb/> hält er sich für auszehrend. Beim Ausbruch des Freiheitskriegs verfolgt ihn<lb/> die Furcht, für sein Vaterland ankämpfen zu müssen. Aus Berlin vertreibt<lb/> ihn die Cholera, aus Neapel die Angst vor den Blattern. In Verona pei¬<lb/> nigt ihn der Gedanke, vergifteten Schnupftabak genommen zu haben. Jahre<lb/> lang wird die Flamme seines Genius durch die Furcht vor dem Verlust seines<lb/> Vermögens und vor Anfechtung der Erbtheilung seiner eigenen leiblichen Mut¬<lb/> ter gegenüber getrübt. Entsteht in der Nacht Lärm, so fährt er vom Bett auf<lb/> und greift nach den Pistolen, die er beständig geladen hält.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0194]
Nichtanerkennung seiner werthvolleren Leistungen nur gesteigerten und zugleich
verbitterten Selbstüberhebung überwuchert, von angeborner Melancholie ver¬
dunkelt, in Pessimismus und Quietismus, Weltschmerz und eine barocke, bis¬
weilen geradezu komische, auf alle Fälle bemitleidenswerthe Menschenverachtung
umschlug.
Herr Gwinner freilich erklärt sich das anders. Ihm ist Schopenhauer ein
Genie, und ein Genie muß sich in der Welt fremd und einsam fühlen, sich
des Gegensatzes zu ihr bewußt sein. „Dle geniale Individualität löst ihren
vorweltlichen Rapport niemals völlig, setzt ihrer Entfaltung in dieser Welt An¬
fangs den zähesten Widerstand entgegen, knüpft nur scheu und ungelenk jedes
neue Verhältniß an, dessen tiefere Wirkung sie instinctiv voraussieht und fürch¬
tet, und bewahrt sich so länger die ursprüngliche Form des Gemüths, die uns
aus den seligen Augen der Kindheit anlacht. Daher sieht sich dem den sichern
Schatz im Herzen tragenden Genius das Spiel des Lebens nur in der Vor¬
stellung leichter an, im Willen aber schwerer, und der wehmüthige Blick, den
er, je weiter er im Leben fortschreitet, desto sehnsüchtiger nach der entschwin¬
denden Kindheit zurückwirft, ist der Ausdruck des Gefühls dieser unüberwind¬
lichen Schwere des Daseins." — Dem künstlerischen Genius „gelingt es eher,
sich zurechtzusetzen mit der Welt, die des Schönen so viel hat, und wenn er jci
verzagen wollte, strömt er sein Herzblut in Bild und Gedicht aus, deren Schein
die fehlende Wirklichkeit des Ideals für Augenblicke vergessen läßt. Da¬
gegen der arme einsame Denker, dem kein Gott gab, zu sagen, was er lei¬
det, zieht sich scheu zurück aus dem regen Handel dieser Welt: er eilt
vom lauten Marktplatz des Lebens wie ein geschlagenes Kind, aus Furcht,
sein Alles zu verlieren, sich selbst abtrünnig werden zu müssen, wenn er sich
fügte."
Wir halten uns nicht damit auf, diese wundersame Anschauung vom Wesen
des philosophischen Genies in ihrer Verkehrtheit darzustellen, und fragen nur, wie
in aller Welt paßt dieser orphische Styl zu den sehr prosaischen Mittheilungen
über Schopenhauer, die unmittelbar nachher folgen, und zunächst zu der wahr¬
haft ungeheuerlichen Feigheit unseres Weltweisen? Schon als Jüngling quälen
ihn eingebildete Krankheiten und Streithändet. Während er in Berlin studirt,
hält er sich für auszehrend. Beim Ausbruch des Freiheitskriegs verfolgt ihn
die Furcht, für sein Vaterland ankämpfen zu müssen. Aus Berlin vertreibt
ihn die Cholera, aus Neapel die Angst vor den Blattern. In Verona pei¬
nigt ihn der Gedanke, vergifteten Schnupftabak genommen zu haben. Jahre
lang wird die Flamme seines Genius durch die Furcht vor dem Verlust seines
Vermögens und vor Anfechtung der Erbtheilung seiner eigenen leiblichen Mut¬
ter gegenüber getrübt. Entsteht in der Nacht Lärm, so fährt er vom Bett auf
und greift nach den Pistolen, die er beständig geladen hält.
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