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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band.

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von vorn herein erwarten; nur die Juden halten sich weislich in ihren abge¬
legenen Quartieren, um nicht von christlich-fanatischer Straßenjustiz unter tür¬
kischer Connivenz für das von ihren Vorfahren vor 1828 Jahren begangene
Verbrechen zur Strafe und Buße gezogen zu werden.

Man möchte nun glauben, daß diese Versammelten, wenigstens ihre Mehr¬
zahl, zu Spöttereien über die wundergläubigen Kirchgänger sich' aufgelegt fühlen
könnten. Bezeichnen ja doch die Beschreiber Jerusalems in fast stereotyper
Weise das heilige Feuer als einen Skandal in den Augen der Nichtchristen.
Gewiß gibts auch keinen Muselmann, der nicht bei der Function lieber an
ein Schwefelholz, als an eine unmittelbare Bethätigung der göttlichen Allmacht
glauben sollte, falls er überhaupt die Sache zum Gegenstande seines Nachden¬
kens macht. In der That aber geschieht dies letztere nicht. In Jerusalem
ist keine Religion, ja fast keine Confession, welche nicht einerseits ihren Ange¬
hörigen eine Fülle von jeder menschlichen Vernunft ins Gesicht schlagenden
Monstrositäten aufbürdete und andrerseits das große Publicum von Zeit zu
Zeit mit wunderlichen und unverständlichen Ritualien unterhielte. Der Hicro-
polit ist also in Folge vielfältiger Uebung nach diesen beiden Richtungen hin
ziemlich abgehärtet, und vermöge eines gewissen Billigkeitsgefühls dehnt er die
von dem eignen Bekenntniß erheischte Kritiklosigkeit auch auf die andern aus.
Eine religiöse Feier, ob man sich durch das Bedürfniß geistlicher Erbauung,
oder nur durch irdische Neugier getrieben, dabei betheiligt, ist für den Bewohner
eines Wallfahrtsorts immer ein Schauspiel, in Jerusalem sogar das einzige
dem müssigen Volke gebotene Schauspiel. Gedankenlose Schaulust ist demnach
der durchgehende Zug auf den Gesichtern der Versammelten, seien sie nun Chri¬
sten, seien sie Muhamedaner. Gegen den Vorwurf grober Versündigung am
zweiten Gebot will ich die orthodoxe Geistlichkeit nicht in Schutz nehmen; für
das große Publicum ist aber die Charfreitagsfunction der Lateiner, die Kreu¬
zigung einer braunen, hölzernen Gliederpuppe in der Golgathakapelle und ihre
spanische Einbalsamirung auf dem .Salbuugsstein" viel unverdaulicher als
das heilige Feuer,

Natürlich steht das Gedränge innerhalb der Kirche an dem großen Tage
in potenzirten Verhältniß zu ihrer äußern Umlagerung, und daß die Nächsten¬
liebe des kräftigern Andächtigen, der sich mit Schulter und Faust einen guten
Platz erobert, nicht so weit geht, auf den schwächeren Mitchristen die mindeste
Rücksicht zu nehmen, braucht kaum versichert zu werden. Kein europäischer
Reisender wagt sich in das Gewühl auf dem Boden der Kirche, und auch ich
hatte mich wegen eines erhöhten Sitzes an den mir befreundeten syrischen
Bischof Abd-en-Nur gewandt, welcher sich gern damit gefällig zeigte. So
brauchte ich -- und das war ein nicht gering anzuschlagender Lortheil --
während die unprivilegirte Menge schon Stunden lang ihre Stickluft in das


von vorn herein erwarten; nur die Juden halten sich weislich in ihren abge¬
legenen Quartieren, um nicht von christlich-fanatischer Straßenjustiz unter tür¬
kischer Connivenz für das von ihren Vorfahren vor 1828 Jahren begangene
Verbrechen zur Strafe und Buße gezogen zu werden.

Man möchte nun glauben, daß diese Versammelten, wenigstens ihre Mehr¬
zahl, zu Spöttereien über die wundergläubigen Kirchgänger sich' aufgelegt fühlen
könnten. Bezeichnen ja doch die Beschreiber Jerusalems in fast stereotyper
Weise das heilige Feuer als einen Skandal in den Augen der Nichtchristen.
Gewiß gibts auch keinen Muselmann, der nicht bei der Function lieber an
ein Schwefelholz, als an eine unmittelbare Bethätigung der göttlichen Allmacht
glauben sollte, falls er überhaupt die Sache zum Gegenstande seines Nachden¬
kens macht. In der That aber geschieht dies letztere nicht. In Jerusalem
ist keine Religion, ja fast keine Confession, welche nicht einerseits ihren Ange¬
hörigen eine Fülle von jeder menschlichen Vernunft ins Gesicht schlagenden
Monstrositäten aufbürdete und andrerseits das große Publicum von Zeit zu
Zeit mit wunderlichen und unverständlichen Ritualien unterhielte. Der Hicro-
polit ist also in Folge vielfältiger Uebung nach diesen beiden Richtungen hin
ziemlich abgehärtet, und vermöge eines gewissen Billigkeitsgefühls dehnt er die
von dem eignen Bekenntniß erheischte Kritiklosigkeit auch auf die andern aus.
Eine religiöse Feier, ob man sich durch das Bedürfniß geistlicher Erbauung,
oder nur durch irdische Neugier getrieben, dabei betheiligt, ist für den Bewohner
eines Wallfahrtsorts immer ein Schauspiel, in Jerusalem sogar das einzige
dem müssigen Volke gebotene Schauspiel. Gedankenlose Schaulust ist demnach
der durchgehende Zug auf den Gesichtern der Versammelten, seien sie nun Chri¬
sten, seien sie Muhamedaner. Gegen den Vorwurf grober Versündigung am
zweiten Gebot will ich die orthodoxe Geistlichkeit nicht in Schutz nehmen; für
das große Publicum ist aber die Charfreitagsfunction der Lateiner, die Kreu¬
zigung einer braunen, hölzernen Gliederpuppe in der Golgathakapelle und ihre
spanische Einbalsamirung auf dem .Salbuugsstein" viel unverdaulicher als
das heilige Feuer,

Natürlich steht das Gedränge innerhalb der Kirche an dem großen Tage
in potenzirten Verhältniß zu ihrer äußern Umlagerung, und daß die Nächsten¬
liebe des kräftigern Andächtigen, der sich mit Schulter und Faust einen guten
Platz erobert, nicht so weit geht, auf den schwächeren Mitchristen die mindeste
Rücksicht zu nehmen, braucht kaum versichert zu werden. Kein europäischer
Reisender wagt sich in das Gewühl auf dem Boden der Kirche, und auch ich
hatte mich wegen eines erhöhten Sitzes an den mir befreundeten syrischen
Bischof Abd-en-Nur gewandt, welcher sich gern damit gefällig zeigte. So
brauchte ich — und das war ein nicht gering anzuschlagender Lortheil —
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113779/132>, abgerufen am 08.01.2025.