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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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stets beflissen, seinen persönlichen Einfluß in das hellste Licht zu stellen, ver¬
sprach. Alles aufzubieten, um vom Kaiser eine Modification des Vertrages zu
erlangen. In der That ertheilte ihm in Münchengrätz der Kaiser die ziemlich
bedeutungslose mündliche Zusicherung, die Anwendung des Tractates vorkom¬
menden Falls nicht proclamiren zu wollen. Man war im Grunde von beiden
Seiten entschlossen, die Sache nicht auf's Aeußerste zu treiben. Der nächste
orientalische Conflict sollte zeigen, ob der Tractat nur ein äußerlich glänzender
oder auch ein praktisch bedeutender Erfolg für Rußland war.

Denn daß der Conflict zwischen Sultan und Pascha nur vertagt, nicht
aufgelöst war. mußte schon damals jedem Einsichtigen einleuchten. Von Mah¬
muds mit den Jahren gesteigerter Leidenschaft war nichts Anderes zu erwarten,
als daß er begierig jede Gelegenheit ergreifen würde, für Kutaieh Rache zu
nehmen, zumal da er wußte, daß einem erfolgreichen Unternehmen gegen den
Vicekönig die Billigung der meisten Cabinete nicht fehlen würde. Wichtiger
aber war zunächst, daß durch die ungeschickte französische Politik das freund¬
schaftliche Einvernehmen zwischen den beiden constitutionellen Staaten gestört
und daß diese Störung vor den Augen des mißtrauischen und zum Theil übel¬
wollenden Europas offen dargelegt war. Wir glauben nicht zu irren, wenn
wir annehmen, daß die Wahrnehmung dieser Spannung ganz besonders die nor¬
dischen Mächte zu der Demonstration von Münchcngrätz ermuntert hat,

Daß Frankreich dessenungeachtet in der zweiten Phase der orientalischen
Frage im Jahre 1839 sich wiederum ohne alle Aussichten auf Erfolg in die¬
selben Jrrgänge einer unklaren Politik begab, daß es ungewarnt durch die
Symptome des Jahres 1833 sich von Neuem den unbegreiflichsten Illusionen
über die realen Verhältnisse und die Stimmungen der Mächte hingab, wie
orr in einem zweiten Artikel durchführen wollen, ist einer der schwersten, und
verhängnißvollsten Fehler, welche die Regierung Ludwig Philipps sich hat zu
Schulden kommen lassen.




stets beflissen, seinen persönlichen Einfluß in das hellste Licht zu stellen, ver¬
sprach. Alles aufzubieten, um vom Kaiser eine Modification des Vertrages zu
erlangen. In der That ertheilte ihm in Münchengrätz der Kaiser die ziemlich
bedeutungslose mündliche Zusicherung, die Anwendung des Tractates vorkom¬
menden Falls nicht proclamiren zu wollen. Man war im Grunde von beiden
Seiten entschlossen, die Sache nicht auf's Aeußerste zu treiben. Der nächste
orientalische Conflict sollte zeigen, ob der Tractat nur ein äußerlich glänzender
oder auch ein praktisch bedeutender Erfolg für Rußland war.

Denn daß der Conflict zwischen Sultan und Pascha nur vertagt, nicht
aufgelöst war. mußte schon damals jedem Einsichtigen einleuchten. Von Mah¬
muds mit den Jahren gesteigerter Leidenschaft war nichts Anderes zu erwarten,
als daß er begierig jede Gelegenheit ergreifen würde, für Kutaieh Rache zu
nehmen, zumal da er wußte, daß einem erfolgreichen Unternehmen gegen den
Vicekönig die Billigung der meisten Cabinete nicht fehlen würde. Wichtiger
aber war zunächst, daß durch die ungeschickte französische Politik das freund¬
schaftliche Einvernehmen zwischen den beiden constitutionellen Staaten gestört
und daß diese Störung vor den Augen des mißtrauischen und zum Theil übel¬
wollenden Europas offen dargelegt war. Wir glauben nicht zu irren, wenn
wir annehmen, daß die Wahrnehmung dieser Spannung ganz besonders die nor¬
dischen Mächte zu der Demonstration von Münchcngrätz ermuntert hat,

Daß Frankreich dessenungeachtet in der zweiten Phase der orientalischen
Frage im Jahre 1839 sich wiederum ohne alle Aussichten auf Erfolg in die¬
selben Jrrgänge einer unklaren Politik begab, daß es ungewarnt durch die
Symptome des Jahres 1833 sich von Neuem den unbegreiflichsten Illusionen
über die realen Verhältnisse und die Stimmungen der Mächte hingab, wie
orr in einem zweiten Artikel durchführen wollen, ist einer der schwersten, und
verhängnißvollsten Fehler, welche die Regierung Ludwig Philipps sich hat zu
Schulden kommen lassen.




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[0528] stets beflissen, seinen persönlichen Einfluß in das hellste Licht zu stellen, ver¬ sprach. Alles aufzubieten, um vom Kaiser eine Modification des Vertrages zu erlangen. In der That ertheilte ihm in Münchengrätz der Kaiser die ziemlich bedeutungslose mündliche Zusicherung, die Anwendung des Tractates vorkom¬ menden Falls nicht proclamiren zu wollen. Man war im Grunde von beiden Seiten entschlossen, die Sache nicht auf's Aeußerste zu treiben. Der nächste orientalische Conflict sollte zeigen, ob der Tractat nur ein äußerlich glänzender oder auch ein praktisch bedeutender Erfolg für Rußland war. Denn daß der Conflict zwischen Sultan und Pascha nur vertagt, nicht aufgelöst war. mußte schon damals jedem Einsichtigen einleuchten. Von Mah¬ muds mit den Jahren gesteigerter Leidenschaft war nichts Anderes zu erwarten, als daß er begierig jede Gelegenheit ergreifen würde, für Kutaieh Rache zu nehmen, zumal da er wußte, daß einem erfolgreichen Unternehmen gegen den Vicekönig die Billigung der meisten Cabinete nicht fehlen würde. Wichtiger aber war zunächst, daß durch die ungeschickte französische Politik das freund¬ schaftliche Einvernehmen zwischen den beiden constitutionellen Staaten gestört und daß diese Störung vor den Augen des mißtrauischen und zum Theil übel¬ wollenden Europas offen dargelegt war. Wir glauben nicht zu irren, wenn wir annehmen, daß die Wahrnehmung dieser Spannung ganz besonders die nor¬ dischen Mächte zu der Demonstration von Münchcngrätz ermuntert hat, Daß Frankreich dessenungeachtet in der zweiten Phase der orientalischen Frage im Jahre 1839 sich wiederum ohne alle Aussichten auf Erfolg in die¬ selben Jrrgänge einer unklaren Politik begab, daß es ungewarnt durch die Symptome des Jahres 1833 sich von Neuem den unbegreiflichsten Illusionen über die realen Verhältnisse und die Stimmungen der Mächte hingab, wie orr in einem zweiten Artikel durchführen wollen, ist einer der schwersten, und verhängnißvollsten Fehler, welche die Regierung Ludwig Philipps sich hat zu Schulden kommen lassen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/528>, abgerufen am 23.07.2024.