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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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wir dieses Vorgeben von der schlimmsten Seite auffassen, als Auge List und
frommen Betrug tadeln, ein gewisser Respect vor dem antiken Bauwerke, das
den eingeschriebenen Urkunden Heiligkeit verheißt, läßt sich in dieser Erzählung
nicht verkennen. In noch viel höherem Grade klingt diese ehrfurchtsvolle Scheu
vor der antiken Kunst in der Virgiliussage durch. Roth hat in seiner Abhand¬
lung über denZauberer Virgilius die Entstehung und den Ursprung der Sage, ihre
mannigfachen Wurzeln und späteren Schicksale auf das Gründlichste beleuch¬
tet und bewiesen. Wie außer dem literarischen Cultus der gleichfalls dem Alter¬
thum entlehnte Glaube neu TelesnteN den merkwürdiger! Mythus aufbaute.
Für unsern Ziveck genügt 6s, auf einen einzigen bischet üherselMcn Punkt hin¬
zuweisen" Und jll betonen. daß Birgil ini künstlerischen Bewußtsein dös Mittel¬
alters dieselbe Stellung einnimmt, wie der Zauberer Dädalus int classischen
Alterthurii. Die von Virgil gefertigten Talisckäne in Neapel, seine Zauber-
werke in Rom sind beinahe durchgängig plastische Arbeiten: der mit ausge-
spannter Armbrust dem Lavaregen wehrende eherne Mann, die eherne Fliege
von Froschgröße, die allen lebendigen Fliegen den Zutritt wehrt, das eherne
Pferd, das alle kranker! Pferde durch seinen Anblick heilt, der lachende und
wimmernde Marmorkopf am Stadtthore, der goldene Blutegel, die kupferne
Cicade, die Salvatiö Romae, der steinerne Glockenthurm, der sich Mit den
Glocken W gleichem Tempo schwingend bewegte, der eherne Schütze in Rom,
die Statue, die alle Gesetzübertretungen verräth u. s. w., das Alles deutet
darauf bill, daß eilte deutliche Ahnung von der Macht und der Größe der
antiken Kunst im Mittelalter vorhanden war, daß dieselbe in lebendigster Weise
der Phantasie nahe trat, so nahe/daß ihren Schöpfungen selbst Leben, wen"
auch Nur ein Zaübcrleben. zugemuthet würde. Als wären es natürliche Wesen,
mit Leben und Athem, mit geistiger Kraft begabt, einer andern, aber mächtige¬
ren Welt entstammend. Wie alles Zauberische, abstoßend und anziehend zugleich,
so erscheint die Antike in sagenhafter Umhüllung dem Geiste des Mittelalters.
Als Naturwesen treten auch die antiken Gebilde der Phantasie des Künstlers
entgegen, die sie niemals in ihrem Zusammenhange betrachtet, nicht als Zeug¬
niß einer abgeschlossenen Bildung annimmt, in naiver Weise das Brauchbare
an ihnen herbeiholt und verwerthet, geradeso wie sie det wirklichen Natur
gegenüber sich verhält.

Neben der einen Thatsache, daß die antike Kunst überhaupt dem Mittel¬
alter nicht fremd blieb, das Studium derselben sogar ein bestimmendes Merk-
Mal in der Entwicklung der mittelalterlichen Kunst ausmacht, kann diese naive
Auffassung, die blos die schönen Einzelnheiten, niemals das Ganze erkennt und
hervorhebt, die Antike nur als eine andere Art von Naturerscheinungen versteht,
nicht scharf genug betont werden. Sie namentlich bildet die Brücke, welche das
tiefere Mittelalter mit dein Zeitalter der Renaissance verbindet.


wir dieses Vorgeben von der schlimmsten Seite auffassen, als Auge List und
frommen Betrug tadeln, ein gewisser Respect vor dem antiken Bauwerke, das
den eingeschriebenen Urkunden Heiligkeit verheißt, läßt sich in dieser Erzählung
nicht verkennen. In noch viel höherem Grade klingt diese ehrfurchtsvolle Scheu
vor der antiken Kunst in der Virgiliussage durch. Roth hat in seiner Abhand¬
lung über denZauberer Virgilius die Entstehung und den Ursprung der Sage, ihre
mannigfachen Wurzeln und späteren Schicksale auf das Gründlichste beleuch¬
tet und bewiesen. Wie außer dem literarischen Cultus der gleichfalls dem Alter¬
thum entlehnte Glaube neu TelesnteN den merkwürdiger! Mythus aufbaute.
Für unsern Ziveck genügt 6s, auf einen einzigen bischet üherselMcn Punkt hin¬
zuweisen" Und jll betonen. daß Birgil ini künstlerischen Bewußtsein dös Mittel¬
alters dieselbe Stellung einnimmt, wie der Zauberer Dädalus int classischen
Alterthurii. Die von Virgil gefertigten Talisckäne in Neapel, seine Zauber-
werke in Rom sind beinahe durchgängig plastische Arbeiten: der mit ausge-
spannter Armbrust dem Lavaregen wehrende eherne Mann, die eherne Fliege
von Froschgröße, die allen lebendigen Fliegen den Zutritt wehrt, das eherne
Pferd, das alle kranker! Pferde durch seinen Anblick heilt, der lachende und
wimmernde Marmorkopf am Stadtthore, der goldene Blutegel, die kupferne
Cicade, die Salvatiö Romae, der steinerne Glockenthurm, der sich Mit den
Glocken W gleichem Tempo schwingend bewegte, der eherne Schütze in Rom,
die Statue, die alle Gesetzübertretungen verräth u. s. w., das Alles deutet
darauf bill, daß eilte deutliche Ahnung von der Macht und der Größe der
antiken Kunst im Mittelalter vorhanden war, daß dieselbe in lebendigster Weise
der Phantasie nahe trat, so nahe/daß ihren Schöpfungen selbst Leben, wen«
auch Nur ein Zaübcrleben. zugemuthet würde. Als wären es natürliche Wesen,
mit Leben und Athem, mit geistiger Kraft begabt, einer andern, aber mächtige¬
ren Welt entstammend. Wie alles Zauberische, abstoßend und anziehend zugleich,
so erscheint die Antike in sagenhafter Umhüllung dem Geiste des Mittelalters.
Als Naturwesen treten auch die antiken Gebilde der Phantasie des Künstlers
entgegen, die sie niemals in ihrem Zusammenhange betrachtet, nicht als Zeug¬
niß einer abgeschlossenen Bildung annimmt, in naiver Weise das Brauchbare
an ihnen herbeiholt und verwerthet, geradeso wie sie det wirklichen Natur
gegenüber sich verhält.

Neben der einen Thatsache, daß die antike Kunst überhaupt dem Mittel¬
alter nicht fremd blieb, das Studium derselben sogar ein bestimmendes Merk-
Mal in der Entwicklung der mittelalterlichen Kunst ausmacht, kann diese naive
Auffassung, die blos die schönen Einzelnheiten, niemals das Ganze erkennt und
hervorhebt, die Antike nur als eine andere Art von Naturerscheinungen versteht,
nicht scharf genug betont werden. Sie namentlich bildet die Brücke, welche das
tiefere Mittelalter mit dein Zeitalter der Renaissance verbindet.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/502>, abgerufen am 28.12.2024.