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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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strengungen durch die romantische Ueberschwenglichkeit. mit der es sich von
dem 18. losgesagt hatte-, je mehr es an dieses wieder anknüpft, sich-nicht zu
seiner Beseitigung, sondern zu seiner Fortsetzung und Ergänzung berufen erkennt,
desto mehr ist anzunehmen, daß es seine Ausgabe begriffen habe, desto zuver¬
sichtlicher zu hoffen, daß es sie lösen werde. --

Wir möchten diesen vortrefflichen Ausführungen nur noch die Bemerkung
anreihen, daß wir es noch in einer ganz bestimmten Beziehung für zeitgemäß
halten, daß Strauß das Andenken an Reimarus wieder aufgefrischt hat. Die
Untersuchungen über das apostolische und nachapostolische Zeitalter können nach
den Arbeiten der Tübinger Schule vorläufig als abgeschlossen gelten; seit einer
Reihe von Jahren ist in dieser Hinsicht nichts Nennenswerthes mehr geleistet
worden. Nicht ebenso verhält es sich mit der Person und den, Werk von Jesus
selbst. Es ist der scheinbar begründetste Einwand gegen die zusammenfassende
Geschichtsdarstellung bei Baur, daß sich zwischen Jesus und Paulus eine un-
ausgefüllte Kluft befinde, daß das Christenthum eigentlich erst mit dem Heiden¬
apostel in seine geschichtliche Entwicklung eintrete, daß dieselbe Idee, die schon
in Jesus -- anscheinend ohne Erfolg -- aufgetreten, plötzlich ganz unabhängig
wieder'in Paulus aufgetaucht sei. Bekanntlich ging Baur bei seinen Unter¬
suchungen ganz systematisch zu Werk, indem er von den nachapostolischen
Zeiten, wo am leichtesten sichere historische Anhaltspunkte zu finden waren,
Schritt für Schritt rückwärts ging zu den Schriften und der Wirksamkeit des Apostels
Paulus, dann zu den kanonischen Evangelien. Dagegen bilvet das, was über
Jesu Person und Lehre gesagt ist, gleichsam ein Proömium, das mit der nach¬
folgenden geschichtlichen Entwicklung nur lose zusammenzuhängen scheint, da die
allzu vorsichtige Behandlung des Vorgangs der Auferstehung in der That mehr
dazu dient, beides zu trennen als zu verbinden. Hier die richtige Brücke zu
finden, durch die eingehende Untersuchung, wie der Glaube an die Auferstehung
in den Jüngern entstanden ist, und im Zusammenhang damit die Bedeutung
von Jesus selbst für die nachfolgende Entwickelung klarer und schärfer hervor¬
zuheben, scheint die nächste Aufgabe für die Jünger der kritisch-theologischen
Schule. Denjenigen nun, welche sich dieser Aufgabe unterziehen. -- und wir
sehen sie bereits in Angriff genommen --. mochte man den alten Reimarus
vorhalten gleichsam als ein verkörpertes theologisches Gewissen; spiegeln
mögen sie sich in dem ehrwürdigen Professor des Hamburger Gymnasiums,
nicht um der Ergebnisse seiner Forschung, sondern um seiner Aufrichtigkeit
gegen sich selbst willen; bedenken sollen sie , daß der gesunde Menschenver¬
stand zwar nicht die höchste Instanz ist, aber im 19. so wenig als im 18. Jahr¬
hundert sich ungestraft ins Gesicht schlagen läßt.


Dr. W. Lang.


strengungen durch die romantische Ueberschwenglichkeit. mit der es sich von
dem 18. losgesagt hatte-, je mehr es an dieses wieder anknüpft, sich-nicht zu
seiner Beseitigung, sondern zu seiner Fortsetzung und Ergänzung berufen erkennt,
desto mehr ist anzunehmen, daß es seine Ausgabe begriffen habe, desto zuver¬
sichtlicher zu hoffen, daß es sie lösen werde. —

Wir möchten diesen vortrefflichen Ausführungen nur noch die Bemerkung
anreihen, daß wir es noch in einer ganz bestimmten Beziehung für zeitgemäß
halten, daß Strauß das Andenken an Reimarus wieder aufgefrischt hat. Die
Untersuchungen über das apostolische und nachapostolische Zeitalter können nach
den Arbeiten der Tübinger Schule vorläufig als abgeschlossen gelten; seit einer
Reihe von Jahren ist in dieser Hinsicht nichts Nennenswerthes mehr geleistet
worden. Nicht ebenso verhält es sich mit der Person und den, Werk von Jesus
selbst. Es ist der scheinbar begründetste Einwand gegen die zusammenfassende
Geschichtsdarstellung bei Baur, daß sich zwischen Jesus und Paulus eine un-
ausgefüllte Kluft befinde, daß das Christenthum eigentlich erst mit dem Heiden¬
apostel in seine geschichtliche Entwicklung eintrete, daß dieselbe Idee, die schon
in Jesus — anscheinend ohne Erfolg — aufgetreten, plötzlich ganz unabhängig
wieder'in Paulus aufgetaucht sei. Bekanntlich ging Baur bei seinen Unter¬
suchungen ganz systematisch zu Werk, indem er von den nachapostolischen
Zeiten, wo am leichtesten sichere historische Anhaltspunkte zu finden waren,
Schritt für Schritt rückwärts ging zu den Schriften und der Wirksamkeit des Apostels
Paulus, dann zu den kanonischen Evangelien. Dagegen bilvet das, was über
Jesu Person und Lehre gesagt ist, gleichsam ein Proömium, das mit der nach¬
folgenden geschichtlichen Entwicklung nur lose zusammenzuhängen scheint, da die
allzu vorsichtige Behandlung des Vorgangs der Auferstehung in der That mehr
dazu dient, beides zu trennen als zu verbinden. Hier die richtige Brücke zu
finden, durch die eingehende Untersuchung, wie der Glaube an die Auferstehung
in den Jüngern entstanden ist, und im Zusammenhang damit die Bedeutung
von Jesus selbst für die nachfolgende Entwickelung klarer und schärfer hervor¬
zuheben, scheint die nächste Aufgabe für die Jünger der kritisch-theologischen
Schule. Denjenigen nun, welche sich dieser Aufgabe unterziehen. — und wir
sehen sie bereits in Angriff genommen —. mochte man den alten Reimarus
vorhalten gleichsam als ein verkörpertes theologisches Gewissen; spiegeln
mögen sie sich in dem ehrwürdigen Professor des Hamburger Gymnasiums,
nicht um der Ergebnisse seiner Forschung, sondern um seiner Aufrichtigkeit
gegen sich selbst willen; bedenken sollen sie , daß der gesunde Menschenver¬
stand zwar nicht die höchste Instanz ist, aber im 19. so wenig als im 18. Jahr¬
hundert sich ungestraft ins Gesicht schlagen läßt.


Dr. W. Lang.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/421>, abgerufen am 23.07.2024.