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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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Jesus wunderbar wiederbelebt worden; nach der deistischen von Reimarus ist
sein Leichnam von den Jüngern gestohlen worden; nach der gewöhnlichen
Deutung der Nationalisten ist er scheintodt gewesen und wieder zum Leben
gekommen; nach unserer durch die vergleichende Religionsphilosophie und
die kritische Theologie gewonnenen Ansicht !me die vom tiefsten Gemüth aus
erregte Phantasie seiner Anhänger den Meister, den sie sich unmöglich todt
denken konnten, ihnen als wiederbelebten vorgestellt. Was langehin als
äußere Thatsache, erst wunderbar, dann betrüglich, endlich einfach natürlich,
gegolten hatte, ist hiemit ganz in das Gemüth zurückgenommen, zum innern
Vorgang geworden. Ein Wahn also, aber ein Wahn, der eine Fülle.von
Wahrheit in sich schloß. Denn daß nicht das sichtbare, sondern das Unsicht¬
bare, nicht das Irdische, sondern das Hinnnlische, nicht das Fleisch, sondern
der Geist, das Wahre und Wesentliche sei. die Wahrheit, daß der Kraft der
Ueberzeugung und der Ideen keine noch so stark materielle Macht auf die
Dauer widerstehen könne,' diese Wahrheit, welche die Weltgeschichte umge¬
staltet hat, ist zuerst in der Form des Glaubens an Jesu Auferstehung Ge¬
meingut der Menschheit geworden.

Gleichwohl ist die Ansicht des Reimarus nicht in dem Sinn ein über¬
wundener Standpunkt, daß sie für unsre Zeit nur noch lnstorische Bedeutung
hätte. Hegel würde gesagt haben, der Standpunkt von Reimarus sei in dem
der heutigen Religionswissenschaft aufgehoben. Das Aufheben war ihm aber
bekanntlich nicht blos ein Abthun, sondern zugleich ein Aufbewahren. Das
Aufgehobene ist zwar nicht mehr das Ausschlaggebende, ausschließlich und
letztlich Geltende, es ist durch ein Höheres, das sich aus ihm entwickelt
hat, zum Moment herabgesetzt; aber dieses Höhere wäre dies nicht, wäre selbst
nur eine einseitige Avstraction, wenn es das Aufgehobene vernichten, es nicht
vielmehr, ob auch nur in relativer Geltung, in sich aufrecht erhalten wollte.
Wenn also Reimarus sagte . Das Christenthum ist keine göttliche Offenbarung,
sondern menschlicher Betrug, so wissen wir freilich heute, daß das ein Irrthum,
daß das Christenthum kein Betrug ist. Aber ist es darum eine göttliche Offen¬
barung im Sinne der Kirche? Ist der Satz von Reimar.us ganz zunichte
geworden? Keineswegs; sein Nein bleibt Nein; nur sein Ja hat einem besseren
Platz machen müssen.

Hegel freilich, -- damit schließt Strauß -- und noch weit mehr seine
nächsten theologischen Schüler, sind seinem tiefen Begriffe des Aufhebens nicht
getreu geblieben. Die sogenannte speculative Theologie taugte nichts, weil
sie den Rationalismus so überwunden zu haben meinte, daß sie ihn ganz
vergessen dürfe. Er hat sich gerächt und ist, durch sie selbst geläutert und
vertieft, als kritische Theologie wieder hervorgetreten. Das 19. Jahr¬
hundert brachte sich von Anfang um die Frucht großer und herrlicher An-


Jesus wunderbar wiederbelebt worden; nach der deistischen von Reimarus ist
sein Leichnam von den Jüngern gestohlen worden; nach der gewöhnlichen
Deutung der Nationalisten ist er scheintodt gewesen und wieder zum Leben
gekommen; nach unserer durch die vergleichende Religionsphilosophie und
die kritische Theologie gewonnenen Ansicht !me die vom tiefsten Gemüth aus
erregte Phantasie seiner Anhänger den Meister, den sie sich unmöglich todt
denken konnten, ihnen als wiederbelebten vorgestellt. Was langehin als
äußere Thatsache, erst wunderbar, dann betrüglich, endlich einfach natürlich,
gegolten hatte, ist hiemit ganz in das Gemüth zurückgenommen, zum innern
Vorgang geworden. Ein Wahn also, aber ein Wahn, der eine Fülle.von
Wahrheit in sich schloß. Denn daß nicht das sichtbare, sondern das Unsicht¬
bare, nicht das Irdische, sondern das Hinnnlische, nicht das Fleisch, sondern
der Geist, das Wahre und Wesentliche sei. die Wahrheit, daß der Kraft der
Ueberzeugung und der Ideen keine noch so stark materielle Macht auf die
Dauer widerstehen könne,' diese Wahrheit, welche die Weltgeschichte umge¬
staltet hat, ist zuerst in der Form des Glaubens an Jesu Auferstehung Ge¬
meingut der Menschheit geworden.

Gleichwohl ist die Ansicht des Reimarus nicht in dem Sinn ein über¬
wundener Standpunkt, daß sie für unsre Zeit nur noch lnstorische Bedeutung
hätte. Hegel würde gesagt haben, der Standpunkt von Reimarus sei in dem
der heutigen Religionswissenschaft aufgehoben. Das Aufheben war ihm aber
bekanntlich nicht blos ein Abthun, sondern zugleich ein Aufbewahren. Das
Aufgehobene ist zwar nicht mehr das Ausschlaggebende, ausschließlich und
letztlich Geltende, es ist durch ein Höheres, das sich aus ihm entwickelt
hat, zum Moment herabgesetzt; aber dieses Höhere wäre dies nicht, wäre selbst
nur eine einseitige Avstraction, wenn es das Aufgehobene vernichten, es nicht
vielmehr, ob auch nur in relativer Geltung, in sich aufrecht erhalten wollte.
Wenn also Reimarus sagte . Das Christenthum ist keine göttliche Offenbarung,
sondern menschlicher Betrug, so wissen wir freilich heute, daß das ein Irrthum,
daß das Christenthum kein Betrug ist. Aber ist es darum eine göttliche Offen¬
barung im Sinne der Kirche? Ist der Satz von Reimar.us ganz zunichte
geworden? Keineswegs; sein Nein bleibt Nein; nur sein Ja hat einem besseren
Platz machen müssen.

Hegel freilich, — damit schließt Strauß — und noch weit mehr seine
nächsten theologischen Schüler, sind seinem tiefen Begriffe des Aufhebens nicht
getreu geblieben. Die sogenannte speculative Theologie taugte nichts, weil
sie den Rationalismus so überwunden zu haben meinte, daß sie ihn ganz
vergessen dürfe. Er hat sich gerächt und ist, durch sie selbst geläutert und
vertieft, als kritische Theologie wieder hervorgetreten. Das 19. Jahr¬
hundert brachte sich von Anfang um die Frucht großer und herrlicher An-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/420>, abgerufen am 23.07.2024.