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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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rung gebracht, das vollständige Manuscript sei noch auf der Hamburger Bi¬
bliothek vorhanden, im Jahre 1844 dahin mit dem Wunsch, dasselbe zur
Herausgabe zu erhalten. Allein es war bereits einem andern, dem Secretär
der dortigen Bibliothek Dr. Wilhelm Klose. zu diesem Zwecke zugesagt. Die¬
ser begann nun, da für das umfangreiche Werk sich kein Verleger finden
wollte, seit 1850 es stückweise in Nieoner's Zeitschrift für historische Theologie
abdrucken zu lassen, wo denn bis zum Jahr 1852 die drei ersten Bücher des er¬
sten Theils, ohne das letzte Kapitel vom dritten Buch, erschienen, während die
zwei übrigen Bücher des ersten Theils nebst dem genannten Kapitel und einem
kritischen Anhang über den Kanon des alten Testaments und sämmtliche fünf
Bücher des zweiten Theils nebst einem ähnlichen Anhang über den Kanon des
neuen Testaments bis jetzt ungedruckr geblieben find.

Als Strauß das ganze Werk in Händen hatte, dachte er an dessen voll¬
ständige Herausgabe nicht mehr. Dazu schien es ihm in seinem Standpunkt
und seiner Haltung, in Anschauungs- und 'Ausdrucksweise zu fremd geworden.
Aber ein zusammenfassendes Bild von der Wirksamkeit ^und Bedeutung des
Mannes, der schon durch die Bruchstücke seines Hauptwerth so große Wirkung
ausgeübt, erschien ihm als eine Pflicht der Dankbarkeit nicht nur, sondern
auch als ein nützliches Werk für die Gegenwart. Und wenn den größten
Theil der Schrift eine eingehende Analyse der "Apologie" einnimmt, so ge¬
schah dies, weil Neimcuus eben auf dieses Werk fast die ganze Arbeit seines
Lebens concentrirt, in ihm aber auch ein classisches Denkmal sür die geistige
Richtung seiner ganzen Epoche niedergelegt hat. In der That läßt gerade
diese Analyse es bedauern, daß das ganze Werk "nicht im rechten Zeitpunkt
herausgekommen ist, um mit der ganzen Wucht eines geschlossenen Ganzen
in die geistige Bewegung der siebziger Jahre einzugreifen." Das systema¬
tische Verfahren des Verfassers, sein Geschick, den Gegner von dessen eigenem
Standpunkt aus anzugreifen, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, die
unerbittliche Konsequenz in der Anwendung einfachster kritischer Grundsätze
aus das ganze Gebiet der biblischen Geschichte und biblischen Lehre, und bei
alledem die redliche Gewissenhaftigkeit, mit welcher er nur im Interesse der
"in der Christenheit fast ganz verkommncn Vernunft", der "wahren, einfachen
und thätigen Religion Jesu", der "Tugend, Frömmigkeit und allgemeinen
Menschenliebe" das Christenthum der Herren Theologen seiner zersetzenden
Kritik unterzog, alles dies mußte in dem Gesammtwerk ganz anders hervor¬
treten und zu weit größerer Wirkung gelangen als in den vereinzelten Bruchstücken,
die nach und nach veröffentlicht wurden. Es hatte zwar Reimanis nicht an Vor-
gängern gefehlt, auf deren Arbeiten er sich stützen konnte. Allein wenn Spinoza die
Persönlichkeiten der biblischen Geschichte auf den Boden natürlicher Menschlichkeit
stellte und über Offenbarung und Wunder, Schrift und Schriftauslegung Gedanken


Grenzboten I. 1862. - 52

rung gebracht, das vollständige Manuscript sei noch auf der Hamburger Bi¬
bliothek vorhanden, im Jahre 1844 dahin mit dem Wunsch, dasselbe zur
Herausgabe zu erhalten. Allein es war bereits einem andern, dem Secretär
der dortigen Bibliothek Dr. Wilhelm Klose. zu diesem Zwecke zugesagt. Die¬
ser begann nun, da für das umfangreiche Werk sich kein Verleger finden
wollte, seit 1850 es stückweise in Nieoner's Zeitschrift für historische Theologie
abdrucken zu lassen, wo denn bis zum Jahr 1852 die drei ersten Bücher des er¬
sten Theils, ohne das letzte Kapitel vom dritten Buch, erschienen, während die
zwei übrigen Bücher des ersten Theils nebst dem genannten Kapitel und einem
kritischen Anhang über den Kanon des alten Testaments und sämmtliche fünf
Bücher des zweiten Theils nebst einem ähnlichen Anhang über den Kanon des
neuen Testaments bis jetzt ungedruckr geblieben find.

Als Strauß das ganze Werk in Händen hatte, dachte er an dessen voll¬
ständige Herausgabe nicht mehr. Dazu schien es ihm in seinem Standpunkt
und seiner Haltung, in Anschauungs- und 'Ausdrucksweise zu fremd geworden.
Aber ein zusammenfassendes Bild von der Wirksamkeit ^und Bedeutung des
Mannes, der schon durch die Bruchstücke seines Hauptwerth so große Wirkung
ausgeübt, erschien ihm als eine Pflicht der Dankbarkeit nicht nur, sondern
auch als ein nützliches Werk für die Gegenwart. Und wenn den größten
Theil der Schrift eine eingehende Analyse der „Apologie" einnimmt, so ge¬
schah dies, weil Neimcuus eben auf dieses Werk fast die ganze Arbeit seines
Lebens concentrirt, in ihm aber auch ein classisches Denkmal sür die geistige
Richtung seiner ganzen Epoche niedergelegt hat. In der That läßt gerade
diese Analyse es bedauern, daß das ganze Werk „nicht im rechten Zeitpunkt
herausgekommen ist, um mit der ganzen Wucht eines geschlossenen Ganzen
in die geistige Bewegung der siebziger Jahre einzugreifen." Das systema¬
tische Verfahren des Verfassers, sein Geschick, den Gegner von dessen eigenem
Standpunkt aus anzugreifen, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, die
unerbittliche Konsequenz in der Anwendung einfachster kritischer Grundsätze
aus das ganze Gebiet der biblischen Geschichte und biblischen Lehre, und bei
alledem die redliche Gewissenhaftigkeit, mit welcher er nur im Interesse der
„in der Christenheit fast ganz verkommncn Vernunft", der „wahren, einfachen
und thätigen Religion Jesu", der „Tugend, Frömmigkeit und allgemeinen
Menschenliebe" das Christenthum der Herren Theologen seiner zersetzenden
Kritik unterzog, alles dies mußte in dem Gesammtwerk ganz anders hervor¬
treten und zu weit größerer Wirkung gelangen als in den vereinzelten Bruchstücken,
die nach und nach veröffentlicht wurden. Es hatte zwar Reimanis nicht an Vor-
gängern gefehlt, auf deren Arbeiten er sich stützen konnte. Allein wenn Spinoza die
Persönlichkeiten der biblischen Geschichte auf den Boden natürlicher Menschlichkeit
stellte und über Offenbarung und Wunder, Schrift und Schriftauslegung Gedanken


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[0417] rung gebracht, das vollständige Manuscript sei noch auf der Hamburger Bi¬ bliothek vorhanden, im Jahre 1844 dahin mit dem Wunsch, dasselbe zur Herausgabe zu erhalten. Allein es war bereits einem andern, dem Secretär der dortigen Bibliothek Dr. Wilhelm Klose. zu diesem Zwecke zugesagt. Die¬ ser begann nun, da für das umfangreiche Werk sich kein Verleger finden wollte, seit 1850 es stückweise in Nieoner's Zeitschrift für historische Theologie abdrucken zu lassen, wo denn bis zum Jahr 1852 die drei ersten Bücher des er¬ sten Theils, ohne das letzte Kapitel vom dritten Buch, erschienen, während die zwei übrigen Bücher des ersten Theils nebst dem genannten Kapitel und einem kritischen Anhang über den Kanon des alten Testaments und sämmtliche fünf Bücher des zweiten Theils nebst einem ähnlichen Anhang über den Kanon des neuen Testaments bis jetzt ungedruckr geblieben find. Als Strauß das ganze Werk in Händen hatte, dachte er an dessen voll¬ ständige Herausgabe nicht mehr. Dazu schien es ihm in seinem Standpunkt und seiner Haltung, in Anschauungs- und 'Ausdrucksweise zu fremd geworden. Aber ein zusammenfassendes Bild von der Wirksamkeit ^und Bedeutung des Mannes, der schon durch die Bruchstücke seines Hauptwerth so große Wirkung ausgeübt, erschien ihm als eine Pflicht der Dankbarkeit nicht nur, sondern auch als ein nützliches Werk für die Gegenwart. Und wenn den größten Theil der Schrift eine eingehende Analyse der „Apologie" einnimmt, so ge¬ schah dies, weil Neimcuus eben auf dieses Werk fast die ganze Arbeit seines Lebens concentrirt, in ihm aber auch ein classisches Denkmal sür die geistige Richtung seiner ganzen Epoche niedergelegt hat. In der That läßt gerade diese Analyse es bedauern, daß das ganze Werk „nicht im rechten Zeitpunkt herausgekommen ist, um mit der ganzen Wucht eines geschlossenen Ganzen in die geistige Bewegung der siebziger Jahre einzugreifen." Das systema¬ tische Verfahren des Verfassers, sein Geschick, den Gegner von dessen eigenem Standpunkt aus anzugreifen, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, die unerbittliche Konsequenz in der Anwendung einfachster kritischer Grundsätze aus das ganze Gebiet der biblischen Geschichte und biblischen Lehre, und bei alledem die redliche Gewissenhaftigkeit, mit welcher er nur im Interesse der „in der Christenheit fast ganz verkommncn Vernunft", der „wahren, einfachen und thätigen Religion Jesu", der „Tugend, Frömmigkeit und allgemeinen Menschenliebe" das Christenthum der Herren Theologen seiner zersetzenden Kritik unterzog, alles dies mußte in dem Gesammtwerk ganz anders hervor¬ treten und zu weit größerer Wirkung gelangen als in den vereinzelten Bruchstücken, die nach und nach veröffentlicht wurden. Es hatte zwar Reimanis nicht an Vor- gängern gefehlt, auf deren Arbeiten er sich stützen konnte. Allein wenn Spinoza die Persönlichkeiten der biblischen Geschichte auf den Boden natürlicher Menschlichkeit stellte und über Offenbarung und Wunder, Schrift und Schriftauslegung Gedanken Grenzboten I. 1862. - 52

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/417>, abgerufen am 23.07.2024.