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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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nur in Fragmenten bekannt, und er verdient es, als ganzer Mann bekannt zu
werden. Was man bisher von seinen biblischen Forschungen besaß, waren
bloße Bruchstücke aus einem umfassenden Werke, das den Titel führte: "Apo-
logie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes", und das er.
wie seine Kenntnisse sich mehrten, seine Ansichten sich lauterem, immer neuen
Bearbeitungen unterwarf, deren letzte er erst in den letzten Monaten seines
Lebens vollendete.'¬

Lessing brachte das letzte Jahr vor Reimarus Ableben (1768) als Dra
maturg des dortigen Theaters in Hamburg zu, wo er den schon kränkelnden
Greis zwar kennen lernte, doch ohne ihm näher zu treten. Aber er blieb
nach dessen Tod noch zwei Jahre in Hamburg und wurde hier mit seiner
hinterlassenen Familie, namentlich dem Sohne Joh. Albrecht Heinrich, dem
Arzte, und der Tochter Elise genauer bekannt. Durch sie konnte Lessing Bruch¬
stücke des Werth, doch in einem früheren Entwürfe, kennen. Was er hatte,
schien ihm wichtig genug, es vollständig zu veröffentlichen. Allein Censur¬
schwierigkeiten standen dem Plane im Wege, und erst später wurde er in der
unvollkommenen Weise ausgeführt, daß Lefstng in den Jahren 1774--77
nacheinander sechs ausgewählte Bruchstücke des Manuskripts >n seinen Bei¬
trägen zur Geschichte der Literatur aus den Schätzen der herzogt. Bibliothek
zu Wolfenbüttel", für die er Censurfreiheit genoß, das letzte und größte:
"Bon dem Zwecke Jesu und der Jünger" im Jahre 1778 besonders erschei¬
nen ließ. Weitere Stücke gab nach Lessing's Tod im Jahr 1787 C A. E. Schmidt,
unter welchem Namen indeß der Canonicus Andreas Rica versteckt sein soll,
unter dem Titel: "Uebrige noch ungedruckte Werke des Wolfcnbüttelscheu
Fragmentisten" heraus, während die Alischnitte des Ncimarusschen Werks über
den Kanon, welche Lessing, unter dem auf Semler's "freie Untersuchung" zie¬
lende" Titel: "Eine noch freiere Untersuchung des Kanons des Alten und
Neuen Testaments" im Jahre 1774 herauszugeben beabsichtigt hatte, nicht er¬
schienen sind.

Obwohl Lessing und die Reimarus'schen Hinterbliebenen das Geheimniß
der Autorschaft zu wahren suchten (jener behauptete das Manuscnpt auf der
Wolfeubüttier Bibliothek gefunden zu haben), so wurde doch der Verdacht bald
auf Reimarus gelenkt. Vollkommne Gewißheit findet erst statt, seitdem Rei>
marus der Sohn im Jahre 1814 die von ihm der Götturger Bibliothek be¬
stimmte Abschrift des Werks (die Urschrift vermachte er der Hamburger Stadt-
bibliothek) mit einem Brief begleitete, worin er seinen Vater als den Ver¬
fasser nannte.

Strauß, der schon vor Jahren im Sinne hatte, mehr für das Andenken
des so werthen Mannes zu thun, als gelegentlich durch Erwähnung desselben
in seinen theologischen Schriften geschah, wandte sich, nachdem er in Ersah-


nur in Fragmenten bekannt, und er verdient es, als ganzer Mann bekannt zu
werden. Was man bisher von seinen biblischen Forschungen besaß, waren
bloße Bruchstücke aus einem umfassenden Werke, das den Titel führte: „Apo-
logie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes", und das er.
wie seine Kenntnisse sich mehrten, seine Ansichten sich lauterem, immer neuen
Bearbeitungen unterwarf, deren letzte er erst in den letzten Monaten seines
Lebens vollendete.'¬

Lessing brachte das letzte Jahr vor Reimarus Ableben (1768) als Dra
maturg des dortigen Theaters in Hamburg zu, wo er den schon kränkelnden
Greis zwar kennen lernte, doch ohne ihm näher zu treten. Aber er blieb
nach dessen Tod noch zwei Jahre in Hamburg und wurde hier mit seiner
hinterlassenen Familie, namentlich dem Sohne Joh. Albrecht Heinrich, dem
Arzte, und der Tochter Elise genauer bekannt. Durch sie konnte Lessing Bruch¬
stücke des Werth, doch in einem früheren Entwürfe, kennen. Was er hatte,
schien ihm wichtig genug, es vollständig zu veröffentlichen. Allein Censur¬
schwierigkeiten standen dem Plane im Wege, und erst später wurde er in der
unvollkommenen Weise ausgeführt, daß Lefstng in den Jahren 1774—77
nacheinander sechs ausgewählte Bruchstücke des Manuskripts >n seinen Bei¬
trägen zur Geschichte der Literatur aus den Schätzen der herzogt. Bibliothek
zu Wolfenbüttel", für die er Censurfreiheit genoß, das letzte und größte:
„Bon dem Zwecke Jesu und der Jünger" im Jahre 1778 besonders erschei¬
nen ließ. Weitere Stücke gab nach Lessing's Tod im Jahr 1787 C A. E. Schmidt,
unter welchem Namen indeß der Canonicus Andreas Rica versteckt sein soll,
unter dem Titel: „Uebrige noch ungedruckte Werke des Wolfcnbüttelscheu
Fragmentisten" heraus, während die Alischnitte des Ncimarusschen Werks über
den Kanon, welche Lessing, unter dem auf Semler's „freie Untersuchung" zie¬
lende« Titel: „Eine noch freiere Untersuchung des Kanons des Alten und
Neuen Testaments" im Jahre 1774 herauszugeben beabsichtigt hatte, nicht er¬
schienen sind.

Obwohl Lessing und die Reimarus'schen Hinterbliebenen das Geheimniß
der Autorschaft zu wahren suchten (jener behauptete das Manuscnpt auf der
Wolfeubüttier Bibliothek gefunden zu haben), so wurde doch der Verdacht bald
auf Reimarus gelenkt. Vollkommne Gewißheit findet erst statt, seitdem Rei>
marus der Sohn im Jahre 1814 die von ihm der Götturger Bibliothek be¬
stimmte Abschrift des Werks (die Urschrift vermachte er der Hamburger Stadt-
bibliothek) mit einem Brief begleitete, worin er seinen Vater als den Ver¬
fasser nannte.

Strauß, der schon vor Jahren im Sinne hatte, mehr für das Andenken
des so werthen Mannes zu thun, als gelegentlich durch Erwähnung desselben
in seinen theologischen Schriften geschah, wandte sich, nachdem er in Ersah-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/416>, abgerufen am 23.07.2024.