Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Mesons mit einem Strahlenkranz großartiger Eigenschaften zu umgeben und
ihm eine unermeßliche Perspective zukünftiger Macht und Größe zu eröffne".
Solche Ansichten, von Autoritäten in orientalischen Dingen wie Fallmerayer
ausgestellt, waren nicht geeignet das gebrochne Selbstvertrauen Europa's wie¬
der zu beleben; sie haben im Gegentheil viel dazu beigetragen, das damals
oft gehörte Wort von dem "Koloß mit den thönernen Füßen" unverstanden
und wirkungslos verhallen zu lassen. Erst durch den orientalischen Krieg mit
seiner furchtbaren Logik der Thatsachen wurde das Abendland zu tiefster Be>
schämung darüber aufgeklärt, daß es vierzig Jahre lang vor einem Svukge-
bilde der eigenen Phantasie gezittert habe.

Hierin also haben wir uns schon einmal eines großen und verhängniß-
vollen Irrthums schuldig gemacht. Nun haben wir uns ohne Weiteres Hals
über Kopf in eine neue Anschauung hineingestürzt, in der wir heute so fest
sitzen wie nur je in der alten. Wir sind gegen unsre Gewohnheit diesmal
nicht vorsichtig geworden. Die Gefahr erneuten Irrthums liegt aber um so
näher, als es sich diesmal um den Liberalismus handelt. Europa hegt be¬
kanntlich eine blinde Zärtlichkeit für dieses Kind seiner Schmerzen und traut
ihm Wunderkräfte zu: Rußland gebe sich in seine Hände, und es werde ge¬
sunden.

' Aber das Wesen der freien Formen besteht eben darin, daß sie mit Noth¬
wendigkeit von innen herauswachsen, daß sie das Ergebniß und die Erschei¬
nung der selbstthätigen und selbständigen Entwicklung des zur Freiheit an¬
gelegten Geistes sind. Von außen kann selbstverständlich die freie Form einem
Volk nicht zugebracht werden; will man sie dennoch mit Gewalt einpflanze",
so zerstört man statt auszubauen.

Soll also von dem liberalen Aufschwung des russischen Volks etwas Be¬
stimmtes sich aussagen lassen, so handelt es sich vor Allem um die Frage:
Besitzt das russische Volk diese Entwicklungsfähigkeit im europäischen Sinn,
und wenn nicht, welches wird die Bedeutung des Liberalismus und welches
der Gang und das Ergebniß der russischen Revolution sein?

Sehen wir uns zunächst bei den Vertretern der Ansicht, welche das Heil
Rußlands vom Liberalismus erwartet, nach dieser Cardinalfrage um, so muß
es uns als höchst seltsam erscheinen, daß eine solche Frage für sie gar nicht
existirt. Sie sehen überall nur äußere Hemmnisse der Entwicklung; daß es
deren auch innere, im Wesen des Volks selbst begründete geben könne, da-
ran scheinen sie nicht einmal zu denken. Am bestimmtesten oder, wenn man
lieber will, am naivsten findet sich diese auf ein blindes Vertrauen zur All-
Macht freier Formen gegründete Anschauung ausgeprägt in dem bekannten
Buche des Fürsten P. Dolgorukow: 1a v6red6 sur ig, KuSsis, das uns daher
schon der mustergiltige Ausdruck derselben ist. Der Fürst also legt die Seba-


46*

Mesons mit einem Strahlenkranz großartiger Eigenschaften zu umgeben und
ihm eine unermeßliche Perspective zukünftiger Macht und Größe zu eröffne».
Solche Ansichten, von Autoritäten in orientalischen Dingen wie Fallmerayer
ausgestellt, waren nicht geeignet das gebrochne Selbstvertrauen Europa's wie¬
der zu beleben; sie haben im Gegentheil viel dazu beigetragen, das damals
oft gehörte Wort von dem „Koloß mit den thönernen Füßen" unverstanden
und wirkungslos verhallen zu lassen. Erst durch den orientalischen Krieg mit
seiner furchtbaren Logik der Thatsachen wurde das Abendland zu tiefster Be>
schämung darüber aufgeklärt, daß es vierzig Jahre lang vor einem Svukge-
bilde der eigenen Phantasie gezittert habe.

Hierin also haben wir uns schon einmal eines großen und verhängniß-
vollen Irrthums schuldig gemacht. Nun haben wir uns ohne Weiteres Hals
über Kopf in eine neue Anschauung hineingestürzt, in der wir heute so fest
sitzen wie nur je in der alten. Wir sind gegen unsre Gewohnheit diesmal
nicht vorsichtig geworden. Die Gefahr erneuten Irrthums liegt aber um so
näher, als es sich diesmal um den Liberalismus handelt. Europa hegt be¬
kanntlich eine blinde Zärtlichkeit für dieses Kind seiner Schmerzen und traut
ihm Wunderkräfte zu: Rußland gebe sich in seine Hände, und es werde ge¬
sunden.

' Aber das Wesen der freien Formen besteht eben darin, daß sie mit Noth¬
wendigkeit von innen herauswachsen, daß sie das Ergebniß und die Erschei¬
nung der selbstthätigen und selbständigen Entwicklung des zur Freiheit an¬
gelegten Geistes sind. Von außen kann selbstverständlich die freie Form einem
Volk nicht zugebracht werden; will man sie dennoch mit Gewalt einpflanze»,
so zerstört man statt auszubauen.

Soll also von dem liberalen Aufschwung des russischen Volks etwas Be¬
stimmtes sich aussagen lassen, so handelt es sich vor Allem um die Frage:
Besitzt das russische Volk diese Entwicklungsfähigkeit im europäischen Sinn,
und wenn nicht, welches wird die Bedeutung des Liberalismus und welches
der Gang und das Ergebniß der russischen Revolution sein?

Sehen wir uns zunächst bei den Vertretern der Ansicht, welche das Heil
Rußlands vom Liberalismus erwartet, nach dieser Cardinalfrage um, so muß
es uns als höchst seltsam erscheinen, daß eine solche Frage für sie gar nicht
existirt. Sie sehen überall nur äußere Hemmnisse der Entwicklung; daß es
deren auch innere, im Wesen des Volks selbst begründete geben könne, da-
ran scheinen sie nicht einmal zu denken. Am bestimmtesten oder, wenn man
lieber will, am naivsten findet sich diese auf ein blindes Vertrauen zur All-
Macht freier Formen gegründete Anschauung ausgeprägt in dem bekannten
Buche des Fürsten P. Dolgorukow: 1a v6red6 sur ig, KuSsis, das uns daher
schon der mustergiltige Ausdruck derselben ist. Der Fürst also legt die Seba-


46*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0371" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/113613"/>
          <p xml:id="ID_1135" prev="#ID_1134"> Mesons mit einem Strahlenkranz großartiger Eigenschaften zu umgeben und<lb/>
ihm eine unermeßliche Perspective zukünftiger Macht und Größe zu eröffne».<lb/>
Solche Ansichten, von Autoritäten in orientalischen Dingen wie Fallmerayer<lb/>
ausgestellt, waren nicht geeignet das gebrochne Selbstvertrauen Europa's wie¬<lb/>
der zu beleben; sie haben im Gegentheil viel dazu beigetragen, das damals<lb/>
oft gehörte Wort von dem &#x201E;Koloß mit den thönernen Füßen" unverstanden<lb/>
und wirkungslos verhallen zu lassen. Erst durch den orientalischen Krieg mit<lb/>
seiner furchtbaren Logik der Thatsachen wurde das Abendland zu tiefster Be&gt;<lb/>
schämung darüber aufgeklärt, daß es vierzig Jahre lang vor einem Svukge-<lb/>
bilde der eigenen Phantasie gezittert habe.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1136"> Hierin also haben wir uns schon einmal eines großen und verhängniß-<lb/>
vollen Irrthums schuldig gemacht. Nun haben wir uns ohne Weiteres Hals<lb/>
über Kopf in eine neue Anschauung hineingestürzt, in der wir heute so fest<lb/>
sitzen wie nur je in der alten. Wir sind gegen unsre Gewohnheit diesmal<lb/>
nicht vorsichtig geworden. Die Gefahr erneuten Irrthums liegt aber um so<lb/>
näher, als es sich diesmal um den Liberalismus handelt. Europa hegt be¬<lb/>
kanntlich eine blinde Zärtlichkeit für dieses Kind seiner Schmerzen und traut<lb/>
ihm Wunderkräfte zu: Rußland gebe sich in seine Hände, und es werde ge¬<lb/>
sunden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1137"> ' Aber das Wesen der freien Formen besteht eben darin, daß sie mit Noth¬<lb/>
wendigkeit von innen herauswachsen, daß sie das Ergebniß und die Erschei¬<lb/>
nung der selbstthätigen und selbständigen Entwicklung des zur Freiheit an¬<lb/>
gelegten Geistes sind. Von außen kann selbstverständlich die freie Form einem<lb/>
Volk nicht zugebracht werden; will man sie dennoch mit Gewalt einpflanze»,<lb/>
so zerstört man statt auszubauen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1138"> Soll also von dem liberalen Aufschwung des russischen Volks etwas Be¬<lb/>
stimmtes sich aussagen lassen, so handelt es sich vor Allem um die Frage:<lb/>
Besitzt das russische Volk diese Entwicklungsfähigkeit im europäischen Sinn,<lb/>
und wenn nicht, welches wird die Bedeutung des Liberalismus und welches<lb/>
der Gang und das Ergebniß der russischen Revolution sein?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1139" next="#ID_1140"> Sehen wir uns zunächst bei den Vertretern der Ansicht, welche das Heil<lb/>
Rußlands vom Liberalismus erwartet, nach dieser Cardinalfrage um, so muß<lb/>
es uns als höchst seltsam erscheinen, daß eine solche Frage für sie gar nicht<lb/>
existirt. Sie sehen überall nur äußere Hemmnisse der Entwicklung; daß es<lb/>
deren auch innere, im Wesen des Volks selbst begründete geben könne, da-<lb/>
ran scheinen sie nicht einmal zu denken. Am bestimmtesten oder, wenn man<lb/>
lieber will, am naivsten findet sich diese auf ein blindes Vertrauen zur All-<lb/>
Macht freier Formen gegründete Anschauung ausgeprägt in dem bekannten<lb/>
Buche des Fürsten P. Dolgorukow: 1a v6red6 sur ig, KuSsis, das uns daher<lb/>
schon der mustergiltige Ausdruck derselben ist.  Der Fürst also legt die Seba-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 46*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0371] Mesons mit einem Strahlenkranz großartiger Eigenschaften zu umgeben und ihm eine unermeßliche Perspective zukünftiger Macht und Größe zu eröffne». Solche Ansichten, von Autoritäten in orientalischen Dingen wie Fallmerayer ausgestellt, waren nicht geeignet das gebrochne Selbstvertrauen Europa's wie¬ der zu beleben; sie haben im Gegentheil viel dazu beigetragen, das damals oft gehörte Wort von dem „Koloß mit den thönernen Füßen" unverstanden und wirkungslos verhallen zu lassen. Erst durch den orientalischen Krieg mit seiner furchtbaren Logik der Thatsachen wurde das Abendland zu tiefster Be> schämung darüber aufgeklärt, daß es vierzig Jahre lang vor einem Svukge- bilde der eigenen Phantasie gezittert habe. Hierin also haben wir uns schon einmal eines großen und verhängniß- vollen Irrthums schuldig gemacht. Nun haben wir uns ohne Weiteres Hals über Kopf in eine neue Anschauung hineingestürzt, in der wir heute so fest sitzen wie nur je in der alten. Wir sind gegen unsre Gewohnheit diesmal nicht vorsichtig geworden. Die Gefahr erneuten Irrthums liegt aber um so näher, als es sich diesmal um den Liberalismus handelt. Europa hegt be¬ kanntlich eine blinde Zärtlichkeit für dieses Kind seiner Schmerzen und traut ihm Wunderkräfte zu: Rußland gebe sich in seine Hände, und es werde ge¬ sunden. ' Aber das Wesen der freien Formen besteht eben darin, daß sie mit Noth¬ wendigkeit von innen herauswachsen, daß sie das Ergebniß und die Erschei¬ nung der selbstthätigen und selbständigen Entwicklung des zur Freiheit an¬ gelegten Geistes sind. Von außen kann selbstverständlich die freie Form einem Volk nicht zugebracht werden; will man sie dennoch mit Gewalt einpflanze», so zerstört man statt auszubauen. Soll also von dem liberalen Aufschwung des russischen Volks etwas Be¬ stimmtes sich aussagen lassen, so handelt es sich vor Allem um die Frage: Besitzt das russische Volk diese Entwicklungsfähigkeit im europäischen Sinn, und wenn nicht, welches wird die Bedeutung des Liberalismus und welches der Gang und das Ergebniß der russischen Revolution sein? Sehen wir uns zunächst bei den Vertretern der Ansicht, welche das Heil Rußlands vom Liberalismus erwartet, nach dieser Cardinalfrage um, so muß es uns als höchst seltsam erscheinen, daß eine solche Frage für sie gar nicht existirt. Sie sehen überall nur äußere Hemmnisse der Entwicklung; daß es deren auch innere, im Wesen des Volks selbst begründete geben könne, da- ran scheinen sie nicht einmal zu denken. Am bestimmtesten oder, wenn man lieber will, am naivsten findet sich diese auf ein blindes Vertrauen zur All- Macht freier Formen gegründete Anschauung ausgeprägt in dem bekannten Buche des Fürsten P. Dolgorukow: 1a v6red6 sur ig, KuSsis, das uns daher schon der mustergiltige Ausdruck derselben ist. Der Fürst also legt die Seba- 46*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/371
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/371>, abgerufen am 23.07.2024.