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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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durchmachen müssen, wie wir andern auch. Was so in Westeuropa erst neuer¬
dings feststehende Ansicht wurde, davon war man in Rußland selbst schon
längst überzeugt. In Petersburg galt die Revolution schon vor zwei Jahren
für unvermeidlich; sie war öffentliches Geheimniß, lange bevor sich ihre Vor¬
boten einstellten. Kenner russischer Zustände datiren sie von der Thronbe¬
steigung Alexander's des Zweiten.

Kommt man darin überein. daß die Revolution überhaupt bevor¬
stehe, so gehen die Meinungen anseinander, sobald man versucht tiefer in
das eigenthümliche Wesen des beginnenden Umwandlungsprvcesses einzudrin¬
gen, sich über seinen sittlichen Kern, seine leitenden Ideen und seine treiben¬
den Kräfte, seine geistigen und materiellen Voraussetzungen klar zu werden und
daraus auf seine Ergebnisse und deren weltgeschichtliche Bedeutung zu schließen.
Einerseits macht man sich die Sache leicht- die russische Bewegung wird nach der
bekannten liberalen Schablone zugeschnitten und beurtheilt. Rußland, meint man,
werde als demokratischer Phönix aus der Asche des Absolutismus emporsteigen
und dann erst anfangen der Unabhängigkeit Europa's wahrhaft gefährlich zu sein.
Andrerseits weiß selbst der gründliche Deutsche über jene Verwirrung nicht
hinaus zu kommen; wir meinen über die Zukunft urtheile" zu können, ohne
uns über die gegenwärtigen Zustände, deren Ergebniß sie doch nur sein wird,
klar zu sein.

Bei dem Mangel an zuverlässigen officiellen Angaben und der Unzu¬
gänglichkeit der vorhandenen Quellen verdanken wir unsere Wissenschaft von
dem russischen Leben vorzüglich den Berichten von Reisenden, von denen die
meisten sich nur an die Außenseite des Lebens hielten, manche nicht sehen
wollten was offen zu Tage lag. andere wiederum sahen was nicht zu sehen
war, keiner aber Alles sah, was er sehen konnte, noch so tief als er sehen
muß.te, um ein Vcrständnjß für ,dje Eigenthümlichkeit moskomitischen Wesens
zu gewinnen. Ueberall eine Menge treffender Bemerkungen im Einzelnen, oft
Überraschend geistreich und den Kern der Frage anstreifend, nirgends Einsicht,
guter Wille und Muth genug, die strengen Konsequenzen richtiger Anschau¬
ungen zu ziehen. Unter diesen Umständen bildeten sich denn ganz natürlich
Hie widersprechendsten Meinungen und seltsamsten Hypothesen, die bona side
aufgestellt und geglaubt wurden Das eine Mal nannte man die Russen
asiatische Barbaren, redete laut von dem uuversöhn.lichen Gegensatz zwischen
Europäerthum und "Byzantinismus", und deutete gleich darauf ganz unbe¬
fangen aus eiyc künftige Entwicklung des Woh^vwiterthuins im europäisch
liberalen Sinn. Das andre Mal fühlte man das Bedürfniß, die unselige Russen¬
furcht, welche uns bis !Mte des vorigen Jahrzehnts beherrschte, philosophisch
zu rechtfertigen; zu dem Ende wetteiferten unsere fruchtbare abendländische
Phantasie und tiefsinnige Weisheit, die nackte gemeine Prosa des russischen


durchmachen müssen, wie wir andern auch. Was so in Westeuropa erst neuer¬
dings feststehende Ansicht wurde, davon war man in Rußland selbst schon
längst überzeugt. In Petersburg galt die Revolution schon vor zwei Jahren
für unvermeidlich; sie war öffentliches Geheimniß, lange bevor sich ihre Vor¬
boten einstellten. Kenner russischer Zustände datiren sie von der Thronbe¬
steigung Alexander's des Zweiten.

Kommt man darin überein. daß die Revolution überhaupt bevor¬
stehe, so gehen die Meinungen anseinander, sobald man versucht tiefer in
das eigenthümliche Wesen des beginnenden Umwandlungsprvcesses einzudrin¬
gen, sich über seinen sittlichen Kern, seine leitenden Ideen und seine treiben¬
den Kräfte, seine geistigen und materiellen Voraussetzungen klar zu werden und
daraus auf seine Ergebnisse und deren weltgeschichtliche Bedeutung zu schließen.
Einerseits macht man sich die Sache leicht- die russische Bewegung wird nach der
bekannten liberalen Schablone zugeschnitten und beurtheilt. Rußland, meint man,
werde als demokratischer Phönix aus der Asche des Absolutismus emporsteigen
und dann erst anfangen der Unabhängigkeit Europa's wahrhaft gefährlich zu sein.
Andrerseits weiß selbst der gründliche Deutsche über jene Verwirrung nicht
hinaus zu kommen; wir meinen über die Zukunft urtheile» zu können, ohne
uns über die gegenwärtigen Zustände, deren Ergebniß sie doch nur sein wird,
klar zu sein.

Bei dem Mangel an zuverlässigen officiellen Angaben und der Unzu¬
gänglichkeit der vorhandenen Quellen verdanken wir unsere Wissenschaft von
dem russischen Leben vorzüglich den Berichten von Reisenden, von denen die
meisten sich nur an die Außenseite des Lebens hielten, manche nicht sehen
wollten was offen zu Tage lag. andere wiederum sahen was nicht zu sehen
war, keiner aber Alles sah, was er sehen konnte, noch so tief als er sehen
muß.te, um ein Vcrständnjß für ,dje Eigenthümlichkeit moskomitischen Wesens
zu gewinnen. Ueberall eine Menge treffender Bemerkungen im Einzelnen, oft
Überraschend geistreich und den Kern der Frage anstreifend, nirgends Einsicht,
guter Wille und Muth genug, die strengen Konsequenzen richtiger Anschau¬
ungen zu ziehen. Unter diesen Umständen bildeten sich denn ganz natürlich
Hie widersprechendsten Meinungen und seltsamsten Hypothesen, die bona side
aufgestellt und geglaubt wurden Das eine Mal nannte man die Russen
asiatische Barbaren, redete laut von dem uuversöhn.lichen Gegensatz zwischen
Europäerthum und „Byzantinismus", und deutete gleich darauf ganz unbe¬
fangen aus eiyc künftige Entwicklung des Woh^vwiterthuins im europäisch
liberalen Sinn. Das andre Mal fühlte man das Bedürfniß, die unselige Russen¬
furcht, welche uns bis !Mte des vorigen Jahrzehnts beherrschte, philosophisch
zu rechtfertigen; zu dem Ende wetteiferten unsere fruchtbare abendländische
Phantasie und tiefsinnige Weisheit, die nackte gemeine Prosa des russischen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/370>, abgerufen am 25.08.2024.