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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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die Alterthumskunde, welche durch Beobachtung alter localer Eigenthüm¬
lichkeiten, aus Sagen, Volksgebräuchen, den Beeten der Dorfflur und den
Namen einzelner Acker- und Waldstücke bereits Schlüsse zieht aus eine entfernte
Vergangenheit, bis zu welcher die geschichtliche Ueberlieferung in der Regel
nicht hinaufreicht.

So ist der Schriftsteller, welcher jetzt Dorfgeschichten schreibt, in der un¬
bequemen Lage, daß gerade, was ihn zur Produktion reizt: das Eigenthüm¬
liche und Charakteristische im Leben einer bestimmten Landschaft, bereits an¬
derweitig nach vielen Richtungen Gegenstand eines ernsten Interesses gewor¬
den ist. Wenn er uns einen Hochzcitsbrauch. alte Sitte in einem Bauer¬
höfe, das Leben auf der Alm, die socialen Zustände armer Holzschnitzer un
Gebirge schildert, so begegnet dem Leser leicht, daß er die erfindende Zu¬
that des (5>zählevs als störend empfindet und ihm dankbarer wäre, wenn
er Selbsterlebtes und Geschautes gewissenhaft nach der Wirklichkeit so abzu¬
bilden wüßte, daß unsere Kenntniß nationaler Zustände, unter Umständen
auch die Wissenschaft einen Nutzen davon hätten. Wer jetzt noch eine Dorf¬
geschichte schreiben will, welche das beste Lesepublicum Deutschlands fesselt,
der bedarf nicht nur eine genaue Kenntniß einer Landschaft und ihres Volks¬
lebens, sondern in hohem Grade die Eigenschaften einer kräftigen Dichter¬
natur. Er muß verstehen, mühelos das allgemeine Menschliche, ewig Fes¬
selnde in den Besonderheiten der Erscheinung darzustellen. Er wird nicht nue,
wie alle Genremaler, Virtuosität in der Behandlung des Details nöthig haben,
sondern er wird auch nicht vergessen dürfen, daß ein Kunstwerk durch das
Absonderliche und Locale zwar Farbe und Stimmung, nicht aber den poetischen
Inhalt erhalten darf.

Diese Betrachtungen werden sich Jedem aufdrängen, der das oben.angezeigte
Buch liest. Der Verfasser desselben versteht lebendig zu schildern; er hat ein
gutes Auge, genaue Kenntniß der Landschaft und Volkssitten, er weiß die
Eindrücke, welche ihm die Wirklichkeit gegeben hat, recht hübsch und anschau¬
lich zusammenzustellen. Ueberall, wo er auf dem Boden der Thatsachen sich
bewegt, ist seine Erzählung interessant: die Beschreibung des Innthals, eines
Einödhoses, ländlicher Volksfeste und Gebräuche, wilder Naturereignisse, wie
sie der Gebirgslandschaft eigen sind, das ist vortrefflich. Besonders lehrreich
ist sein Bericht über die Volkssitte des Haberfcldtreibens, die alte Lynch¬
justiz einiger Landkreise der Overbaiern; man darf schließen, daß der Ver¬
fasser Gelegenheit gehabt hat, vielleicht aus den Criminalacten des Landes
seine Studien darüber zu machen.

Aber seine Fähigkeit, dichterisch zu erfinden, ist beschränkt. Er hat aller¬
dings lebendige poetische Anschauung von den Charakteren, welche er für
seine Erzählung braucht. Die charakterisirenden Züge, welche er seinen Landleuten


die Alterthumskunde, welche durch Beobachtung alter localer Eigenthüm¬
lichkeiten, aus Sagen, Volksgebräuchen, den Beeten der Dorfflur und den
Namen einzelner Acker- und Waldstücke bereits Schlüsse zieht aus eine entfernte
Vergangenheit, bis zu welcher die geschichtliche Ueberlieferung in der Regel
nicht hinaufreicht.

So ist der Schriftsteller, welcher jetzt Dorfgeschichten schreibt, in der un¬
bequemen Lage, daß gerade, was ihn zur Produktion reizt: das Eigenthüm¬
liche und Charakteristische im Leben einer bestimmten Landschaft, bereits an¬
derweitig nach vielen Richtungen Gegenstand eines ernsten Interesses gewor¬
den ist. Wenn er uns einen Hochzcitsbrauch. alte Sitte in einem Bauer¬
höfe, das Leben auf der Alm, die socialen Zustände armer Holzschnitzer un
Gebirge schildert, so begegnet dem Leser leicht, daß er die erfindende Zu¬
that des (5>zählevs als störend empfindet und ihm dankbarer wäre, wenn
er Selbsterlebtes und Geschautes gewissenhaft nach der Wirklichkeit so abzu¬
bilden wüßte, daß unsere Kenntniß nationaler Zustände, unter Umständen
auch die Wissenschaft einen Nutzen davon hätten. Wer jetzt noch eine Dorf¬
geschichte schreiben will, welche das beste Lesepublicum Deutschlands fesselt,
der bedarf nicht nur eine genaue Kenntniß einer Landschaft und ihres Volks¬
lebens, sondern in hohem Grade die Eigenschaften einer kräftigen Dichter¬
natur. Er muß verstehen, mühelos das allgemeine Menschliche, ewig Fes¬
selnde in den Besonderheiten der Erscheinung darzustellen. Er wird nicht nue,
wie alle Genremaler, Virtuosität in der Behandlung des Details nöthig haben,
sondern er wird auch nicht vergessen dürfen, daß ein Kunstwerk durch das
Absonderliche und Locale zwar Farbe und Stimmung, nicht aber den poetischen
Inhalt erhalten darf.

Diese Betrachtungen werden sich Jedem aufdrängen, der das oben.angezeigte
Buch liest. Der Verfasser desselben versteht lebendig zu schildern; er hat ein
gutes Auge, genaue Kenntniß der Landschaft und Volkssitten, er weiß die
Eindrücke, welche ihm die Wirklichkeit gegeben hat, recht hübsch und anschau¬
lich zusammenzustellen. Ueberall, wo er auf dem Boden der Thatsachen sich
bewegt, ist seine Erzählung interessant: die Beschreibung des Innthals, eines
Einödhoses, ländlicher Volksfeste und Gebräuche, wilder Naturereignisse, wie
sie der Gebirgslandschaft eigen sind, das ist vortrefflich. Besonders lehrreich
ist sein Bericht über die Volkssitte des Haberfcldtreibens, die alte Lynch¬
justiz einiger Landkreise der Overbaiern; man darf schließen, daß der Ver¬
fasser Gelegenheit gehabt hat, vielleicht aus den Criminalacten des Landes
seine Studien darüber zu machen.

Aber seine Fähigkeit, dichterisch zu erfinden, ist beschränkt. Er hat aller¬
dings lebendige poetische Anschauung von den Charakteren, welche er für
seine Erzählung braucht. Die charakterisirenden Züge, welche er seinen Landleuten


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[0261] die Alterthumskunde, welche durch Beobachtung alter localer Eigenthüm¬ lichkeiten, aus Sagen, Volksgebräuchen, den Beeten der Dorfflur und den Namen einzelner Acker- und Waldstücke bereits Schlüsse zieht aus eine entfernte Vergangenheit, bis zu welcher die geschichtliche Ueberlieferung in der Regel nicht hinaufreicht. So ist der Schriftsteller, welcher jetzt Dorfgeschichten schreibt, in der un¬ bequemen Lage, daß gerade, was ihn zur Produktion reizt: das Eigenthüm¬ liche und Charakteristische im Leben einer bestimmten Landschaft, bereits an¬ derweitig nach vielen Richtungen Gegenstand eines ernsten Interesses gewor¬ den ist. Wenn er uns einen Hochzcitsbrauch. alte Sitte in einem Bauer¬ höfe, das Leben auf der Alm, die socialen Zustände armer Holzschnitzer un Gebirge schildert, so begegnet dem Leser leicht, daß er die erfindende Zu¬ that des (5>zählevs als störend empfindet und ihm dankbarer wäre, wenn er Selbsterlebtes und Geschautes gewissenhaft nach der Wirklichkeit so abzu¬ bilden wüßte, daß unsere Kenntniß nationaler Zustände, unter Umständen auch die Wissenschaft einen Nutzen davon hätten. Wer jetzt noch eine Dorf¬ geschichte schreiben will, welche das beste Lesepublicum Deutschlands fesselt, der bedarf nicht nur eine genaue Kenntniß einer Landschaft und ihres Volks¬ lebens, sondern in hohem Grade die Eigenschaften einer kräftigen Dichter¬ natur. Er muß verstehen, mühelos das allgemeine Menschliche, ewig Fes¬ selnde in den Besonderheiten der Erscheinung darzustellen. Er wird nicht nue, wie alle Genremaler, Virtuosität in der Behandlung des Details nöthig haben, sondern er wird auch nicht vergessen dürfen, daß ein Kunstwerk durch das Absonderliche und Locale zwar Farbe und Stimmung, nicht aber den poetischen Inhalt erhalten darf. Diese Betrachtungen werden sich Jedem aufdrängen, der das oben.angezeigte Buch liest. Der Verfasser desselben versteht lebendig zu schildern; er hat ein gutes Auge, genaue Kenntniß der Landschaft und Volkssitten, er weiß die Eindrücke, welche ihm die Wirklichkeit gegeben hat, recht hübsch und anschau¬ lich zusammenzustellen. Ueberall, wo er auf dem Boden der Thatsachen sich bewegt, ist seine Erzählung interessant: die Beschreibung des Innthals, eines Einödhoses, ländlicher Volksfeste und Gebräuche, wilder Naturereignisse, wie sie der Gebirgslandschaft eigen sind, das ist vortrefflich. Besonders lehrreich ist sein Bericht über die Volkssitte des Haberfcldtreibens, die alte Lynch¬ justiz einiger Landkreise der Overbaiern; man darf schließen, daß der Ver¬ fasser Gelegenheit gehabt hat, vielleicht aus den Criminalacten des Landes seine Studien darüber zu machen. Aber seine Fähigkeit, dichterisch zu erfinden, ist beschränkt. Er hat aller¬ dings lebendige poetische Anschauung von den Charakteren, welche er für seine Erzählung braucht. Die charakterisirenden Züge, welche er seinen Landleuten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/261>, abgerufen am 23.07.2024.