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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Maßlosen- Die Auster ist der höchste gastronomische Genuß, das Leben ist
,kurz, warum nicht das, ganze Jahr hindurch Austern essen? Und in der That
werden in London sowie in andern englischen Städten und noch mehr im
Lande der Uankees auch in andern als den bezeichneten Monaten, ja oft
schon vor dem, August Austern zu Tausenden verschlungen. Namentlich
die gewöhnlichen Colchesters und Favershnms. die man als "eomraoit oMers"
verkauft, kommen schon in den ersten Tagen des August auf den Markt.
Sie sind aber auch danach und könne" nicht entfernt mit der vornehmen
Klasse der Milton oder wie die Marktleute nicht ohne Glück sich ausdrücken,
der "lUkItmL^natives" verglichen werden, die zr; Anfang des October erscheinen,
den Meridian ihrer Vollkommenheit um Weihnachten erreichen und Ende
April zu verschwinden pflegen. Der gerechte und vollkommene Austermesser ver¬
abscheut jene Unsitte, vor Anfang des Herbstes Austern, zu genießen, als einen
unreinlichen, ungesunden, heillosen und überdies inhumanen Irrthum. Ge¬
setzt, die Auster wäre im Sommer überhaupt genießbar, so kann sie ein ein¬
ziger heißer Tag verderben, und was ist aller Greuel der Welt verglichen mit
einer verdorbnen Auster! Dazu kommt aber, daß die Monate Mai und
Juni die Zeit sind, in welcher die Auster der Fortpflanzung ihres Geschlechts
lebt, und daß sie in dieser Periode stören,^ dreifach, an der Auster, an der
Menschheit und an sich selbst sich versündigen heißt, an der Auster selbst,
weil man sie in einer Function unterbricht,^ welche die freudenreichste ihres
^stillen Daseins ist, an der Menschheit, weil man sie mit jeder einzelnen Auster.
isle man verzehrt, um mindestens eine volle Million von Austern verkürzt, an sich
selberendlich, weil das Blutader Austern in der genannten Zeit sich aus dem ge¬
wöhnlichen-Zustande, in welchem wir es als Milch der Menschenfreundlichkeit
genießen, in gährend Drachengift verwandelt, und weitste in diesen Monaten
überdies, mager und geschmacklos sind. Summa: eine einzige Auster vor dem
September und nach dem April verzehren würde ein gleiches Verbrechen be¬
gehen heißen wie der, welcher eine Nachtigall während des Brütens erschlüge;
würde zu gleicher Zeit die Menschheit um mindestens zwanzig tausend Thaler
preußisch bestehlen (so hoch etwa wird, schlecht gerechnet, die Million Austern
zu veranschlage" sein) und schließlich sich selbst vergiften heißen.

Ist dieses Gebot Strick und scharf begrenzt, so gestattet das zweite: Du
sollst nicht zu viel genießen, verschiedene Auslegungen, je nach der Natur des
Austernverzehrers, so zu sagen, "ach seiner Capacität. Der eine Mensch nennt
meine liebende Gattin und eintausend Thaler jährlich Reichthum und Glück,
der andere braucht, um satt zu werden, von beiden Gegenständen unserer
Wünsche das Zehnfache, ein dritter das Hundertfache. Was Sattsein ist. wo
sichs um Austern handelt, ist schwer zu definire". Die Regel lautet nur. daß
man bei einem Frühstück deren mehr essen kann, als bei einem Souper. Im


Grenzboten IV. 1361. 5Z

Maßlosen- Die Auster ist der höchste gastronomische Genuß, das Leben ist
,kurz, warum nicht das, ganze Jahr hindurch Austern essen? Und in der That
werden in London sowie in andern englischen Städten und noch mehr im
Lande der Uankees auch in andern als den bezeichneten Monaten, ja oft
schon vor dem, August Austern zu Tausenden verschlungen. Namentlich
die gewöhnlichen Colchesters und Favershnms. die man als „eomraoit oMers"
verkauft, kommen schon in den ersten Tagen des August auf den Markt.
Sie sind aber auch danach und könne» nicht entfernt mit der vornehmen
Klasse der Milton oder wie die Marktleute nicht ohne Glück sich ausdrücken,
der „lUkItmL^natives" verglichen werden, die zr; Anfang des October erscheinen,
den Meridian ihrer Vollkommenheit um Weihnachten erreichen und Ende
April zu verschwinden pflegen. Der gerechte und vollkommene Austermesser ver¬
abscheut jene Unsitte, vor Anfang des Herbstes Austern, zu genießen, als einen
unreinlichen, ungesunden, heillosen und überdies inhumanen Irrthum. Ge¬
setzt, die Auster wäre im Sommer überhaupt genießbar, so kann sie ein ein¬
ziger heißer Tag verderben, und was ist aller Greuel der Welt verglichen mit
einer verdorbnen Auster! Dazu kommt aber, daß die Monate Mai und
Juni die Zeit sind, in welcher die Auster der Fortpflanzung ihres Geschlechts
lebt, und daß sie in dieser Periode stören,^ dreifach, an der Auster, an der
Menschheit und an sich selbst sich versündigen heißt, an der Auster selbst,
weil man sie in einer Function unterbricht,^ welche die freudenreichste ihres
^stillen Daseins ist, an der Menschheit, weil man sie mit jeder einzelnen Auster.
isle man verzehrt, um mindestens eine volle Million von Austern verkürzt, an sich
selberendlich, weil das Blutader Austern in der genannten Zeit sich aus dem ge¬
wöhnlichen-Zustande, in welchem wir es als Milch der Menschenfreundlichkeit
genießen, in gährend Drachengift verwandelt, und weitste in diesen Monaten
überdies, mager und geschmacklos sind. Summa: eine einzige Auster vor dem
September und nach dem April verzehren würde ein gleiches Verbrechen be¬
gehen heißen wie der, welcher eine Nachtigall während des Brütens erschlüge;
würde zu gleicher Zeit die Menschheit um mindestens zwanzig tausend Thaler
preußisch bestehlen (so hoch etwa wird, schlecht gerechnet, die Million Austern
zu veranschlage» sein) und schließlich sich selbst vergiften heißen.

Ist dieses Gebot Strick und scharf begrenzt, so gestattet das zweite: Du
sollst nicht zu viel genießen, verschiedene Auslegungen, je nach der Natur des
Austernverzehrers, so zu sagen, »ach seiner Capacität. Der eine Mensch nennt
meine liebende Gattin und eintausend Thaler jährlich Reichthum und Glück,
der andere braucht, um satt zu werden, von beiden Gegenständen unserer
Wünsche das Zehnfache, ein dritter das Hundertfache. Was Sattsein ist. wo
sichs um Austern handelt, ist schwer zu definire». Die Regel lautet nur. daß
man bei einem Frühstück deren mehr essen kann, als bei einem Souper. Im


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[0427] Maßlosen- Die Auster ist der höchste gastronomische Genuß, das Leben ist ,kurz, warum nicht das, ganze Jahr hindurch Austern essen? Und in der That werden in London sowie in andern englischen Städten und noch mehr im Lande der Uankees auch in andern als den bezeichneten Monaten, ja oft schon vor dem, August Austern zu Tausenden verschlungen. Namentlich die gewöhnlichen Colchesters und Favershnms. die man als „eomraoit oMers" verkauft, kommen schon in den ersten Tagen des August auf den Markt. Sie sind aber auch danach und könne» nicht entfernt mit der vornehmen Klasse der Milton oder wie die Marktleute nicht ohne Glück sich ausdrücken, der „lUkItmL^natives" verglichen werden, die zr; Anfang des October erscheinen, den Meridian ihrer Vollkommenheit um Weihnachten erreichen und Ende April zu verschwinden pflegen. Der gerechte und vollkommene Austermesser ver¬ abscheut jene Unsitte, vor Anfang des Herbstes Austern, zu genießen, als einen unreinlichen, ungesunden, heillosen und überdies inhumanen Irrthum. Ge¬ setzt, die Auster wäre im Sommer überhaupt genießbar, so kann sie ein ein¬ ziger heißer Tag verderben, und was ist aller Greuel der Welt verglichen mit einer verdorbnen Auster! Dazu kommt aber, daß die Monate Mai und Juni die Zeit sind, in welcher die Auster der Fortpflanzung ihres Geschlechts lebt, und daß sie in dieser Periode stören,^ dreifach, an der Auster, an der Menschheit und an sich selbst sich versündigen heißt, an der Auster selbst, weil man sie in einer Function unterbricht,^ welche die freudenreichste ihres ^stillen Daseins ist, an der Menschheit, weil man sie mit jeder einzelnen Auster. isle man verzehrt, um mindestens eine volle Million von Austern verkürzt, an sich selberendlich, weil das Blutader Austern in der genannten Zeit sich aus dem ge¬ wöhnlichen-Zustande, in welchem wir es als Milch der Menschenfreundlichkeit genießen, in gährend Drachengift verwandelt, und weitste in diesen Monaten überdies, mager und geschmacklos sind. Summa: eine einzige Auster vor dem September und nach dem April verzehren würde ein gleiches Verbrechen be¬ gehen heißen wie der, welcher eine Nachtigall während des Brütens erschlüge; würde zu gleicher Zeit die Menschheit um mindestens zwanzig tausend Thaler preußisch bestehlen (so hoch etwa wird, schlecht gerechnet, die Million Austern zu veranschlage» sein) und schließlich sich selbst vergiften heißen. Ist dieses Gebot Strick und scharf begrenzt, so gestattet das zweite: Du sollst nicht zu viel genießen, verschiedene Auslegungen, je nach der Natur des Austernverzehrers, so zu sagen, »ach seiner Capacität. Der eine Mensch nennt meine liebende Gattin und eintausend Thaler jährlich Reichthum und Glück, der andere braucht, um satt zu werden, von beiden Gegenständen unserer Wünsche das Zehnfache, ein dritter das Hundertfache. Was Sattsein ist. wo sichs um Austern handelt, ist schwer zu definire». Die Regel lautet nur. daß man bei einem Frühstück deren mehr essen kann, als bei einem Souper. Im Grenzboten IV. 1361. 5Z

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/427>, abgerufen am 29.12.2024.