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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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dornen Mädchen, als daß man sich durch ihre spätere Verheiratung ruinirt
oder sie sich zur Schande aufzieht. Das Leben des Weibes war bis vor we¬
nigen Jahren besonders unter den Radschpulen eine Kette von Leiden. Jede
ihrer Lebensstufen war vom Todesengel bedroht. Sobald das kleine Mädchen
sein Auge dem Tageslicht öffnete, drohte ihm Vergiftung oder Erkrankung;
sobald es. verheirathet. Wittwe wurde, zwang es die Sitte, den Scheiter¬
haufen zu besteigen, und in der Zwischenzeit hing seine Existenz vom Waffen¬
glück ab, da der Radschpute nach Verlorner Schlacht seine Frauen eher ver¬
nichtete, als sie in Gefangenschaft gerathen ließ. Der Radschpute. jedes hei-
rathsfähige Mädchen, wenn sie nicht Gattin wird, für entwürdigt haltend,
sucht eifrig nach einem Mann für sie, der seiner Kaste angehört und wo mög¬
lich höher steht als er selbst. Einen solchen zu finden fällt ihm oft schwer,
vorzüglich wenn er zu dem vornehmern Theil des Volks zählt; denn der hohe
Rang des Schwiegersohns ist theuer zu bezahlen. So hat er nur zwischen
bedeutenden Ausgaben, Entwürdigung oder Tod zu wählen, und nur zu oft
entschließt er sich zu letzterem.

Der Hindustamm der Rajekumars zog zuerst die Aufmerksamkeit der bri¬
tischen Behörden in dieser Hinsicht auf sich. Aber bald entdeckte man. daß
auch andere Stämme das Verbrechen des Kindsmords häufig begingen und
daß in ganz Guzerat und Kutsch nur wenige diesem Gebrauch nicht huldigten.
Unter den Jharijahs fanden sich vor fünfzig Jahren nur zwei Häuptlinge von
Bedeutung, die ihre Töchter am Leben ließen. Dieser Stamm zählte damals
125.000 Köpfe, und man berechnete, daß in ihm jährlich gegen achttausend
Mädchen getödtet wurden. Wenn in frühern Zeiten einem Häuptling der
Jharijahs ein Mädchen geboren wurde, so wandte sich derselbe an den Fa-
milienbrahmanen und bat ihn, sich nach einem passenden Gatten für dieselbe
umzusehen. Der Priester wanderte weit umher und bemühte sich nach Kräften.
Wenn er aber unverrichteter Sacke heimkehrte, so sagte er zu dem Vater:
"Da es gegen unsre Religionsgesetze ist. daß du deine heranwachsende Tochter
in deinem Hause beherbergst, so werde ich sie mit mir nehmen und verbren¬
nen (!), doch nur unter der Bedingung, daß du mir gelobst, wenn dir wieder
ein Mädchen geboren wird, es gleich nach der Geburt zu tödten. Thust du
dies nicht, so soll Unheil über dein Haus kommen."

Später gab man sich nicht so viel Mühe mehr, und die kleinen Wesen
wurden in der Regel gleich von den Müttern selbst getödtet. An einigen
Orten erdrosselte man sie. an andern grub man sie in die Erde oder ertränkte
sie in Milch, wieder anderswo vergiftete man sie mit Opiumpillen. Die
Väter sagten, es ist eine Sache der Weiber u^S> der Kinderstube, um die mir
uns nicht kümmern. "Wie kann es schwer sein, einer Blumenknospe das
Leben zu ersticken!" rief ein Häuptling aus. Die Grabesstille und die Gleich-


Grenzboten IV. 1361. 49

dornen Mädchen, als daß man sich durch ihre spätere Verheiratung ruinirt
oder sie sich zur Schande aufzieht. Das Leben des Weibes war bis vor we¬
nigen Jahren besonders unter den Radschpulen eine Kette von Leiden. Jede
ihrer Lebensstufen war vom Todesengel bedroht. Sobald das kleine Mädchen
sein Auge dem Tageslicht öffnete, drohte ihm Vergiftung oder Erkrankung;
sobald es. verheirathet. Wittwe wurde, zwang es die Sitte, den Scheiter¬
haufen zu besteigen, und in der Zwischenzeit hing seine Existenz vom Waffen¬
glück ab, da der Radschpute nach Verlorner Schlacht seine Frauen eher ver¬
nichtete, als sie in Gefangenschaft gerathen ließ. Der Radschpute. jedes hei-
rathsfähige Mädchen, wenn sie nicht Gattin wird, für entwürdigt haltend,
sucht eifrig nach einem Mann für sie, der seiner Kaste angehört und wo mög¬
lich höher steht als er selbst. Einen solchen zu finden fällt ihm oft schwer,
vorzüglich wenn er zu dem vornehmern Theil des Volks zählt; denn der hohe
Rang des Schwiegersohns ist theuer zu bezahlen. So hat er nur zwischen
bedeutenden Ausgaben, Entwürdigung oder Tod zu wählen, und nur zu oft
entschließt er sich zu letzterem.

Der Hindustamm der Rajekumars zog zuerst die Aufmerksamkeit der bri¬
tischen Behörden in dieser Hinsicht auf sich. Aber bald entdeckte man. daß
auch andere Stämme das Verbrechen des Kindsmords häufig begingen und
daß in ganz Guzerat und Kutsch nur wenige diesem Gebrauch nicht huldigten.
Unter den Jharijahs fanden sich vor fünfzig Jahren nur zwei Häuptlinge von
Bedeutung, die ihre Töchter am Leben ließen. Dieser Stamm zählte damals
125.000 Köpfe, und man berechnete, daß in ihm jährlich gegen achttausend
Mädchen getödtet wurden. Wenn in frühern Zeiten einem Häuptling der
Jharijahs ein Mädchen geboren wurde, so wandte sich derselbe an den Fa-
milienbrahmanen und bat ihn, sich nach einem passenden Gatten für dieselbe
umzusehen. Der Priester wanderte weit umher und bemühte sich nach Kräften.
Wenn er aber unverrichteter Sacke heimkehrte, so sagte er zu dem Vater:
„Da es gegen unsre Religionsgesetze ist. daß du deine heranwachsende Tochter
in deinem Hause beherbergst, so werde ich sie mit mir nehmen und verbren¬
nen (!), doch nur unter der Bedingung, daß du mir gelobst, wenn dir wieder
ein Mädchen geboren wird, es gleich nach der Geburt zu tödten. Thust du
dies nicht, so soll Unheil über dein Haus kommen."

Später gab man sich nicht so viel Mühe mehr, und die kleinen Wesen
wurden in der Regel gleich von den Müttern selbst getödtet. An einigen
Orten erdrosselte man sie. an andern grub man sie in die Erde oder ertränkte
sie in Milch, wieder anderswo vergiftete man sie mit Opiumpillen. Die
Väter sagten, es ist eine Sache der Weiber u^S> der Kinderstube, um die mir
uns nicht kümmern. „Wie kann es schwer sein, einer Blumenknospe das
Leben zu ersticken!" rief ein Häuptling aus. Die Grabesstille und die Gleich-


Grenzboten IV. 1361. 49
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/395>, abgerufen am 27.12.2024.