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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Der liebenswürdige Mann hat i'iber seine Schwäche eine vollkommen
klare Vorstellung, und wenn er auch zuweilen gegen Personen, die seinem
Naturell zuwider mit rigoristischer Strenge über alle übernatürlichen Dinge ur¬
theilen -- z. B. gegen Schlosser durchweg; gegen Pos, in den Stolberg'schen
Angelegenheiten -- heftig wird und von der Sittenlehre nicht viel wissen
will, so corrigirt er sich doch bald durch die Betrachtung, daß zur vollstän¬
digen Entwickelung des Lebens auch die Einseitigkeit gehört. "Je länger
ich lebe", schreibt er 4. Febr. 1827 an Tieck. "desto eher kann ich mich in
andere Leute hineindenken, sie begreifen und ihnen also anch Gerechtigkeit
widerfahren lassen; zu persönlichem näheren Umgange werden mir aber die
sogenannten geistreichen Leute immermehr zuwider. Denn worauf läuft's
mit ihnen meist hinaus? Nur darauf, daß sie eine Ansicht falso das Ein¬
seitige) über dies oder das. Wissenschaft. Kunst. Politik. Religion, allein
und ausschließend betrachtet, sich zugeeignet, und mit unzähligen kleineren
Mitteln zurecht gelegt und gestützt haben. Mit dem Geschwindschiehen aus
dieser Artillerie des an sich Bedeutungslosen machen sie dann so viel Lärm
und Dampf, daß der Unterrichtete, wenn auch nicht aus Furcht, doch der
Unbequemlichkeit halber davonlaufen möchte. Jene Geistreichheit ist zuletzt
nur eine geschmückte Bornirtheit; und diese verschwägert sich gar zu gern mit
dem Fanatismus. Echte Individualität ist von solchem Scctenwesen durch¬
aus verschieden, zu ihm entgegengesetzt; dieses geht immer in Uniform, so
eigenthümlich es sich auch anstelle." -- Gleich daraus fährt er fort: "Wenn
Joh. Müller, als Student in seineu Briefen gar vielen Professoren, deren
Namen man kaum noch kennt, den Beinamen groß" beilegt, war das nicht
besser, als wenn jetzt die wahrhaft großen Männer allen Anfängern klein er¬
scheinen? Lag dort nicht eine viel größere Fähigkeit der Begeisterung, ein viel
frischeres, lebendiges Streben zum Grunde, als bei der negativ kritischen
Richtung, die überall s, ig. baisso spielt?" --

Diese Stimmung ist wol in Anschlag zu bringen, wenn man sich über
Raumers historische Stellung verständige" will. Jedermann erkennt die
Nothwendigkeit eines kritischen Zeitalters, welches alle vermeintlich feststehen¬
den Begriffe in Frage stellt, um die Menschen aus der süßen Gewohnheit
des Daseins aufzurütteln und sie zu freier Thätigkeit anzuspornen; aber man
darf es Keinem verargen, dem in einem solchen Zeitalter nicht wohl wird.
Das Gefühl der Pietät, der Andacht, Verehrung ist ein zu süßes, als daß
man es "nicht mit Schmerz entbehren sollte. In der That geht es auch nie
ganz unter, und in der kritischen Periode Deutschlands, die mit den dreißiger
Jahren begann und noch heute fortdauert. ist es namentlich die stille Ge¬
meinde Goethes, die den alten Cultus treulich pflegt und sich den Mächten
des Krieges und der Zerstörung zu entziehen sucht. Es war nicht eigentlich


Grenzboten IV. 1861. 47

Der liebenswürdige Mann hat i'iber seine Schwäche eine vollkommen
klare Vorstellung, und wenn er auch zuweilen gegen Personen, die seinem
Naturell zuwider mit rigoristischer Strenge über alle übernatürlichen Dinge ur¬
theilen — z. B. gegen Schlosser durchweg; gegen Pos, in den Stolberg'schen
Angelegenheiten — heftig wird und von der Sittenlehre nicht viel wissen
will, so corrigirt er sich doch bald durch die Betrachtung, daß zur vollstän¬
digen Entwickelung des Lebens auch die Einseitigkeit gehört. „Je länger
ich lebe", schreibt er 4. Febr. 1827 an Tieck. „desto eher kann ich mich in
andere Leute hineindenken, sie begreifen und ihnen also anch Gerechtigkeit
widerfahren lassen; zu persönlichem näheren Umgange werden mir aber die
sogenannten geistreichen Leute immermehr zuwider. Denn worauf läuft's
mit ihnen meist hinaus? Nur darauf, daß sie eine Ansicht falso das Ein¬
seitige) über dies oder das. Wissenschaft. Kunst. Politik. Religion, allein
und ausschließend betrachtet, sich zugeeignet, und mit unzähligen kleineren
Mitteln zurecht gelegt und gestützt haben. Mit dem Geschwindschiehen aus
dieser Artillerie des an sich Bedeutungslosen machen sie dann so viel Lärm
und Dampf, daß der Unterrichtete, wenn auch nicht aus Furcht, doch der
Unbequemlichkeit halber davonlaufen möchte. Jene Geistreichheit ist zuletzt
nur eine geschmückte Bornirtheit; und diese verschwägert sich gar zu gern mit
dem Fanatismus. Echte Individualität ist von solchem Scctenwesen durch¬
aus verschieden, zu ihm entgegengesetzt; dieses geht immer in Uniform, so
eigenthümlich es sich auch anstelle." — Gleich daraus fährt er fort: „Wenn
Joh. Müller, als Student in seineu Briefen gar vielen Professoren, deren
Namen man kaum noch kennt, den Beinamen groß" beilegt, war das nicht
besser, als wenn jetzt die wahrhaft großen Männer allen Anfängern klein er¬
scheinen? Lag dort nicht eine viel größere Fähigkeit der Begeisterung, ein viel
frischeres, lebendiges Streben zum Grunde, als bei der negativ kritischen
Richtung, die überall s, ig. baisso spielt?" —

Diese Stimmung ist wol in Anschlag zu bringen, wenn man sich über
Raumers historische Stellung verständige» will. Jedermann erkennt die
Nothwendigkeit eines kritischen Zeitalters, welches alle vermeintlich feststehen¬
den Begriffe in Frage stellt, um die Menschen aus der süßen Gewohnheit
des Daseins aufzurütteln und sie zu freier Thätigkeit anzuspornen; aber man
darf es Keinem verargen, dem in einem solchen Zeitalter nicht wohl wird.
Das Gefühl der Pietät, der Andacht, Verehrung ist ein zu süßes, als daß
man es «nicht mit Schmerz entbehren sollte. In der That geht es auch nie
ganz unter, und in der kritischen Periode Deutschlands, die mit den dreißiger
Jahren begann und noch heute fortdauert. ist es namentlich die stille Ge¬
meinde Goethes, die den alten Cultus treulich pflegt und sich den Mächten
des Krieges und der Zerstörung zu entziehen sucht. Es war nicht eigentlich


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[0379] Der liebenswürdige Mann hat i'iber seine Schwäche eine vollkommen klare Vorstellung, und wenn er auch zuweilen gegen Personen, die seinem Naturell zuwider mit rigoristischer Strenge über alle übernatürlichen Dinge ur¬ theilen — z. B. gegen Schlosser durchweg; gegen Pos, in den Stolberg'schen Angelegenheiten — heftig wird und von der Sittenlehre nicht viel wissen will, so corrigirt er sich doch bald durch die Betrachtung, daß zur vollstän¬ digen Entwickelung des Lebens auch die Einseitigkeit gehört. „Je länger ich lebe", schreibt er 4. Febr. 1827 an Tieck. „desto eher kann ich mich in andere Leute hineindenken, sie begreifen und ihnen also anch Gerechtigkeit widerfahren lassen; zu persönlichem näheren Umgange werden mir aber die sogenannten geistreichen Leute immermehr zuwider. Denn worauf läuft's mit ihnen meist hinaus? Nur darauf, daß sie eine Ansicht falso das Ein¬ seitige) über dies oder das. Wissenschaft. Kunst. Politik. Religion, allein und ausschließend betrachtet, sich zugeeignet, und mit unzähligen kleineren Mitteln zurecht gelegt und gestützt haben. Mit dem Geschwindschiehen aus dieser Artillerie des an sich Bedeutungslosen machen sie dann so viel Lärm und Dampf, daß der Unterrichtete, wenn auch nicht aus Furcht, doch der Unbequemlichkeit halber davonlaufen möchte. Jene Geistreichheit ist zuletzt nur eine geschmückte Bornirtheit; und diese verschwägert sich gar zu gern mit dem Fanatismus. Echte Individualität ist von solchem Scctenwesen durch¬ aus verschieden, zu ihm entgegengesetzt; dieses geht immer in Uniform, so eigenthümlich es sich auch anstelle." — Gleich daraus fährt er fort: „Wenn Joh. Müller, als Student in seineu Briefen gar vielen Professoren, deren Namen man kaum noch kennt, den Beinamen groß" beilegt, war das nicht besser, als wenn jetzt die wahrhaft großen Männer allen Anfängern klein er¬ scheinen? Lag dort nicht eine viel größere Fähigkeit der Begeisterung, ein viel frischeres, lebendiges Streben zum Grunde, als bei der negativ kritischen Richtung, die überall s, ig. baisso spielt?" — Diese Stimmung ist wol in Anschlag zu bringen, wenn man sich über Raumers historische Stellung verständige» will. Jedermann erkennt die Nothwendigkeit eines kritischen Zeitalters, welches alle vermeintlich feststehen¬ den Begriffe in Frage stellt, um die Menschen aus der süßen Gewohnheit des Daseins aufzurütteln und sie zu freier Thätigkeit anzuspornen; aber man darf es Keinem verargen, dem in einem solchen Zeitalter nicht wohl wird. Das Gefühl der Pietät, der Andacht, Verehrung ist ein zu süßes, als daß man es «nicht mit Schmerz entbehren sollte. In der That geht es auch nie ganz unter, und in der kritischen Periode Deutschlands, die mit den dreißiger Jahren begann und noch heute fortdauert. ist es namentlich die stille Ge¬ meinde Goethes, die den alten Cultus treulich pflegt und sich den Mächten des Krieges und der Zerstörung zu entziehen sucht. Es war nicht eigentlich Grenzboten IV. 1861. 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/379>, abgerufen am 23.07.2024.