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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Die Versuchung des Staatsdienstes ist ihm jedenfalls nie sehr nahe ge¬
treten, und wenn wir dem Eindruck trauen, den diese Tagebücher auf uns
machen, so war es kein großes Unglück, weder für ihn, noch für das Jahr¬
hundert. Herr von Varnhagen war liberal, denn er besaß eine tüchtige clas¬
sische Schulbildung, und sein ausgebreiteter Umgang schloß jede Einseitigkeit
aus; er war Frondeur, wie jeder unbeschäftigte Staatsmann, und scharfsinnig
genug, die Schwächen der herrschenden Partei zu durchschauen; aber von seiner
Willenskraft bekommen wir keinen großen Begriff. Jede starke Strömung
reißt ihn mit sich fort, und wenn er über die Borfälle des Tages urtheilt,
legt er nicht den Maßstab der innern Zweckmäßigkeit an, sondern fragt ängst¬
lich: was wird das Publicum dazu sagen? Sorgfältig zeichnet er alle Volks¬
witze auf, alle Bonmots, die in Berlin umgehen, alle Aeußerungen der Vos-
sischen Zeitung: nie wäre er im Stande gewesen, in einer rüsten Zeit der
sogenannten öffentlichen Meinung, d. h. der Stimmung der Leute, die ihn zu¬
nächst berührten, entschlossenen Widerstand zu leisten.

Und nur wer das im Stande ist. hat den Beruf zum Staatsmann. Varn¬
hagen hat Ansichten und Meinungen, zuweilen vortrefflicher Art, aber keine starke
Ueberzeugung. Wir wollen nur ein Beispiel anführen. Ein Hofmann sprach
gegen ihn im December 1340 die stärkste Abneigung gegen alle constitutionell"
Verfassung aus: "durch solche Reden aufgereizt, erkläre ich, daß ich über die
Constitutionsfrage des Augenblicks wol sehr bedenklich und eher zum Verneinen
geneigt sei, aber, im Hintergrunde dieser Frage des Augenblicks, entschieden
constitutionell denke." -- Einen bequemeren Staatsmann kann man sich wirk¬
lich nicht denken! -- Den folgenden Tag erwidert er einem jungen Freunde,
der ihn deshalb zur Rede stellt, er sei im Innern nach wie vor entschieden
constitutionell: "Aber was mich für Preußen und für den gegenwärtigen
Zeitpunkt bedenklich mache, das sei die Roheit und Bornirtheit derer, in
deren' Hände jetzt die Sache fallen müßte. Ich glaubte, der gute Augen¬
blick sei versäumt, man müsse seine Wiederkehr abwarten und nicht den schlim¬
men ausbeuten wollen. -- Näher befragt über die Roheit und Bornirtheit,
die mich erschreckt, gab ich Auskunft und Beispiele. Es ist wahr, man könnte
die Satisfaction haben, manchen hochstehenden Halunken gestürzt zu sehen,
aber wie theuer wäre dies erkauft, wenn man dafür alle Macht in den Händen
von T. V- Z. sehen müßte, vor denen sich zu beugen dann weit härter wäre, als
vor der jetzigen Beamtenwelt. Eine Freiheit, wobei vielleicht Bornes Statue
errichtet, aber die von Goethe gestürzt würde, könne ich nicht wünschen u. s. w.
Die Beispiele machten doch Eindruck."

Wer zu viele Gesichtspunkte hat, kommt nicht von der Stelle; wer an
Börne und Goethe denkt, wenn es sich um eine preußische Verfassung handelt, der
muß sich in das Gebiet der Wünsche zurückziehen: die Politik ist das Gebiet


Die Versuchung des Staatsdienstes ist ihm jedenfalls nie sehr nahe ge¬
treten, und wenn wir dem Eindruck trauen, den diese Tagebücher auf uns
machen, so war es kein großes Unglück, weder für ihn, noch für das Jahr¬
hundert. Herr von Varnhagen war liberal, denn er besaß eine tüchtige clas¬
sische Schulbildung, und sein ausgebreiteter Umgang schloß jede Einseitigkeit
aus; er war Frondeur, wie jeder unbeschäftigte Staatsmann, und scharfsinnig
genug, die Schwächen der herrschenden Partei zu durchschauen; aber von seiner
Willenskraft bekommen wir keinen großen Begriff. Jede starke Strömung
reißt ihn mit sich fort, und wenn er über die Borfälle des Tages urtheilt,
legt er nicht den Maßstab der innern Zweckmäßigkeit an, sondern fragt ängst¬
lich: was wird das Publicum dazu sagen? Sorgfältig zeichnet er alle Volks¬
witze auf, alle Bonmots, die in Berlin umgehen, alle Aeußerungen der Vos-
sischen Zeitung: nie wäre er im Stande gewesen, in einer rüsten Zeit der
sogenannten öffentlichen Meinung, d. h. der Stimmung der Leute, die ihn zu¬
nächst berührten, entschlossenen Widerstand zu leisten.

Und nur wer das im Stande ist. hat den Beruf zum Staatsmann. Varn¬
hagen hat Ansichten und Meinungen, zuweilen vortrefflicher Art, aber keine starke
Ueberzeugung. Wir wollen nur ein Beispiel anführen. Ein Hofmann sprach
gegen ihn im December 1340 die stärkste Abneigung gegen alle constitutionell«
Verfassung aus: „durch solche Reden aufgereizt, erkläre ich, daß ich über die
Constitutionsfrage des Augenblicks wol sehr bedenklich und eher zum Verneinen
geneigt sei, aber, im Hintergrunde dieser Frage des Augenblicks, entschieden
constitutionell denke." — Einen bequemeren Staatsmann kann man sich wirk¬
lich nicht denken! — Den folgenden Tag erwidert er einem jungen Freunde,
der ihn deshalb zur Rede stellt, er sei im Innern nach wie vor entschieden
constitutionell: „Aber was mich für Preußen und für den gegenwärtigen
Zeitpunkt bedenklich mache, das sei die Roheit und Bornirtheit derer, in
deren' Hände jetzt die Sache fallen müßte. Ich glaubte, der gute Augen¬
blick sei versäumt, man müsse seine Wiederkehr abwarten und nicht den schlim¬
men ausbeuten wollen. — Näher befragt über die Roheit und Bornirtheit,
die mich erschreckt, gab ich Auskunft und Beispiele. Es ist wahr, man könnte
die Satisfaction haben, manchen hochstehenden Halunken gestürzt zu sehen,
aber wie theuer wäre dies erkauft, wenn man dafür alle Macht in den Händen
von T. V- Z. sehen müßte, vor denen sich zu beugen dann weit härter wäre, als
vor der jetzigen Beamtenwelt. Eine Freiheit, wobei vielleicht Bornes Statue
errichtet, aber die von Goethe gestürzt würde, könne ich nicht wünschen u. s. w.
Die Beispiele machten doch Eindruck."

Wer zu viele Gesichtspunkte hat, kommt nicht von der Stelle; wer an
Börne und Goethe denkt, wenn es sich um eine preußische Verfassung handelt, der
muß sich in das Gebiet der Wünsche zurückziehen: die Politik ist das Gebiet


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[0332] Die Versuchung des Staatsdienstes ist ihm jedenfalls nie sehr nahe ge¬ treten, und wenn wir dem Eindruck trauen, den diese Tagebücher auf uns machen, so war es kein großes Unglück, weder für ihn, noch für das Jahr¬ hundert. Herr von Varnhagen war liberal, denn er besaß eine tüchtige clas¬ sische Schulbildung, und sein ausgebreiteter Umgang schloß jede Einseitigkeit aus; er war Frondeur, wie jeder unbeschäftigte Staatsmann, und scharfsinnig genug, die Schwächen der herrschenden Partei zu durchschauen; aber von seiner Willenskraft bekommen wir keinen großen Begriff. Jede starke Strömung reißt ihn mit sich fort, und wenn er über die Borfälle des Tages urtheilt, legt er nicht den Maßstab der innern Zweckmäßigkeit an, sondern fragt ängst¬ lich: was wird das Publicum dazu sagen? Sorgfältig zeichnet er alle Volks¬ witze auf, alle Bonmots, die in Berlin umgehen, alle Aeußerungen der Vos- sischen Zeitung: nie wäre er im Stande gewesen, in einer rüsten Zeit der sogenannten öffentlichen Meinung, d. h. der Stimmung der Leute, die ihn zu¬ nächst berührten, entschlossenen Widerstand zu leisten. Und nur wer das im Stande ist. hat den Beruf zum Staatsmann. Varn¬ hagen hat Ansichten und Meinungen, zuweilen vortrefflicher Art, aber keine starke Ueberzeugung. Wir wollen nur ein Beispiel anführen. Ein Hofmann sprach gegen ihn im December 1340 die stärkste Abneigung gegen alle constitutionell« Verfassung aus: „durch solche Reden aufgereizt, erkläre ich, daß ich über die Constitutionsfrage des Augenblicks wol sehr bedenklich und eher zum Verneinen geneigt sei, aber, im Hintergrunde dieser Frage des Augenblicks, entschieden constitutionell denke." — Einen bequemeren Staatsmann kann man sich wirk¬ lich nicht denken! — Den folgenden Tag erwidert er einem jungen Freunde, der ihn deshalb zur Rede stellt, er sei im Innern nach wie vor entschieden constitutionell: „Aber was mich für Preußen und für den gegenwärtigen Zeitpunkt bedenklich mache, das sei die Roheit und Bornirtheit derer, in deren' Hände jetzt die Sache fallen müßte. Ich glaubte, der gute Augen¬ blick sei versäumt, man müsse seine Wiederkehr abwarten und nicht den schlim¬ men ausbeuten wollen. — Näher befragt über die Roheit und Bornirtheit, die mich erschreckt, gab ich Auskunft und Beispiele. Es ist wahr, man könnte die Satisfaction haben, manchen hochstehenden Halunken gestürzt zu sehen, aber wie theuer wäre dies erkauft, wenn man dafür alle Macht in den Händen von T. V- Z. sehen müßte, vor denen sich zu beugen dann weit härter wäre, als vor der jetzigen Beamtenwelt. Eine Freiheit, wobei vielleicht Bornes Statue errichtet, aber die von Goethe gestürzt würde, könne ich nicht wünschen u. s. w. Die Beispiele machten doch Eindruck." Wer zu viele Gesichtspunkte hat, kommt nicht von der Stelle; wer an Börne und Goethe denkt, wenn es sich um eine preußische Verfassung handelt, der muß sich in das Gebiet der Wünsche zurückziehen: die Politik ist das Gebiet

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/332>, abgerufen am 27.12.2024.