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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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unter den Getödteten und Verwundeten nur eine geringe Anzahl Seidenar-
beiler zu finden (kaum ein Zehntel). Noch bezeichnender ist es, daß auf sechs
Fremde nur je ein Einwohner von Lyon kam. Das Verhalten der Pariser
Verbündeten war von dem Gange der Ereignisse in Lyon abhängig gemacht.
Die rechtzeitig von dem thätigen und energischen Thiers veranstaltete Ver¬
haftung der Hauptanführer kam einem ernsthaften Ausbruche zuvor. Dagegen
war der kurze Kampf, der sich entspann, durch ein arges Gemetzel in einem
Hause der Straße Transnonain bezeichnet; eine Ausschreitung, die natürlich
zu heftigen Angriffen gegen die Regierung benutzt wurde.

Mit der Unterdrückung der Aufstände beginnt nun eine ununterbrochene,
für die Verhältnisse charakteristische Reihe von Ministcrkrisen. die für das
Schicksal der Julimonarchie verhängnißvoll geworden ist. Die gesetzgeberische
Thätigkeit, die Guizot für sein Departement durch das Gesetz über den Ele¬
mentarunterricht (23. Juni 1833) eingeleitet hatte, wurde empfindlich unter¬
brochen; die Parteien verfielen der Zersplitterung. Es lag offenbar im In¬
teresse und in der Absicht der Doktrinärs, eine starke conservative Partei auf
liberalen, constitutionellen Grundlagen zu bilden. Die Verhältnisse begünstigten
ein solches Unternehmen allerdings, wie wir schon gesehen haben, durchaus
nicht, ließen es aber doch auch nicht als unmöglich erscheinen. Von der legi-
timifiischen Partei hatte sich ein Theil durch seine turbulente Haltung selbst
für regierungsunfähig erklärt; die Hoffnungen der Faction mußten, je mehr
die Regierung sich befestigte, desto tiefer sinken. Die Gemäßigten unter den
Legitimisten suchten mit der Regierung ihren Frieden zu machen; leider aber
konnte man nicht auf ihre Aufrichtigkeit bauen; sie suchten Guizot von Thiers
zu trennen Und auf ihre Seile zu ziehen (dies geht, wie schon gelegentlich er¬
wähnt ist, aus Capesigue's Flugschrift deutlich hervor), aber nur, um durch
ihn ihre reaktionären Wünsch?, auf die sie durchaus nicht verzichteten, erfüllt
zu sehen. Somit schnitten sie sich selbst die Möglichkeit ab, dem Mittelstande
ihre retardirenden, stabilen, befestigenden Elemente beizumischen, deren sowohl
eine liberale wie eine conservative Partei bedarf. Sie suchten den Mittelstand
sich dienstbar zu machen, statt ihn zu stärken und zu heben. Indessen würde
die Zeit ihre heilende Wirkung ausgeübt haben, wenn das Ministerium nur
in sich einig und auf lange Zeit seines Bestandes sicher gewesen wäre. Dies
war aber nicht der Fall. Die Wirkungen des lisi-s-pArti auf die Majorität
haben wir schon betrachtet. Aber auch das Cabinet trug in sich ein auflösendes
Element, und das war Thiers, der zwar von der Nothwendigkeit überzeugt
war, die materielle Ordnung fest zu begründen, und mit rühmlichem Muthe
die Anarchie bekämpft hatte, übrigens aber nach Neigung und Temperament
sich mehr zum Führer eines Whigwinisteriums. als zum Secundärem der Doc-
trinärs eignete. Die dynastische Opposition Hütte aber noch eine lange Schule


unter den Getödteten und Verwundeten nur eine geringe Anzahl Seidenar-
beiler zu finden (kaum ein Zehntel). Noch bezeichnender ist es, daß auf sechs
Fremde nur je ein Einwohner von Lyon kam. Das Verhalten der Pariser
Verbündeten war von dem Gange der Ereignisse in Lyon abhängig gemacht.
Die rechtzeitig von dem thätigen und energischen Thiers veranstaltete Ver¬
haftung der Hauptanführer kam einem ernsthaften Ausbruche zuvor. Dagegen
war der kurze Kampf, der sich entspann, durch ein arges Gemetzel in einem
Hause der Straße Transnonain bezeichnet; eine Ausschreitung, die natürlich
zu heftigen Angriffen gegen die Regierung benutzt wurde.

Mit der Unterdrückung der Aufstände beginnt nun eine ununterbrochene,
für die Verhältnisse charakteristische Reihe von Ministcrkrisen. die für das
Schicksal der Julimonarchie verhängnißvoll geworden ist. Die gesetzgeberische
Thätigkeit, die Guizot für sein Departement durch das Gesetz über den Ele¬
mentarunterricht (23. Juni 1833) eingeleitet hatte, wurde empfindlich unter¬
brochen; die Parteien verfielen der Zersplitterung. Es lag offenbar im In¬
teresse und in der Absicht der Doktrinärs, eine starke conservative Partei auf
liberalen, constitutionellen Grundlagen zu bilden. Die Verhältnisse begünstigten
ein solches Unternehmen allerdings, wie wir schon gesehen haben, durchaus
nicht, ließen es aber doch auch nicht als unmöglich erscheinen. Von der legi-
timifiischen Partei hatte sich ein Theil durch seine turbulente Haltung selbst
für regierungsunfähig erklärt; die Hoffnungen der Faction mußten, je mehr
die Regierung sich befestigte, desto tiefer sinken. Die Gemäßigten unter den
Legitimisten suchten mit der Regierung ihren Frieden zu machen; leider aber
konnte man nicht auf ihre Aufrichtigkeit bauen; sie suchten Guizot von Thiers
zu trennen Und auf ihre Seile zu ziehen (dies geht, wie schon gelegentlich er¬
wähnt ist, aus Capesigue's Flugschrift deutlich hervor), aber nur, um durch
ihn ihre reaktionären Wünsch?, auf die sie durchaus nicht verzichteten, erfüllt
zu sehen. Somit schnitten sie sich selbst die Möglichkeit ab, dem Mittelstande
ihre retardirenden, stabilen, befestigenden Elemente beizumischen, deren sowohl
eine liberale wie eine conservative Partei bedarf. Sie suchten den Mittelstand
sich dienstbar zu machen, statt ihn zu stärken und zu heben. Indessen würde
die Zeit ihre heilende Wirkung ausgeübt haben, wenn das Ministerium nur
in sich einig und auf lange Zeit seines Bestandes sicher gewesen wäre. Dies
war aber nicht der Fall. Die Wirkungen des lisi-s-pArti auf die Majorität
haben wir schon betrachtet. Aber auch das Cabinet trug in sich ein auflösendes
Element, und das war Thiers, der zwar von der Nothwendigkeit überzeugt
war, die materielle Ordnung fest zu begründen, und mit rühmlichem Muthe
die Anarchie bekämpft hatte, übrigens aber nach Neigung und Temperament
sich mehr zum Führer eines Whigwinisteriums. als zum Secundärem der Doc-
trinärs eignete. Die dynastische Opposition Hütte aber noch eine lange Schule


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/320>, abgerufen am 23.07.2024.