Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.hindurch gerettet hatte. Auch die demokratische Partei, welche seit der Octroyirung Ganz anders liegt die Sache jetzt. Nicht als ob das Ministerium in der Mei¬ Bevor wir die Vorbereitungen, welche die verschiedenen Parteien für die Wahlen Grenzboten IV. 1861. 35
hindurch gerettet hatte. Auch die demokratische Partei, welche seit der Octroyirung Ganz anders liegt die Sache jetzt. Nicht als ob das Ministerium in der Mei¬ Bevor wir die Vorbereitungen, welche die verschiedenen Parteien für die Wahlen Grenzboten IV. 1861. 35
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0283" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/112791"/> <p xml:id="ID_839" prev="#ID_838"> hindurch gerettet hatte. Auch die demokratische Partei, welche seit der Octroyirung<lb/> der Verfassung sich schmollend von politischen Leben zurückgezogen hatte, kehrte jetzt<lb/> bei der in Aussicht stehenden Freiheit der Wahlen auf den politischen Kampfplatz<lb/> zurück. Aber auch sie schloß sich der ministeriellen Partei an. Die Demokratie ver¬<lb/> zichtete darauf, eigene Kandidaten aufzustellen. Abgesehen von der Reaction bildete<lb/> das ganze Land eine große Partei, welche die Unterstützung der Regierung sich zur<lb/> Aufgabe stellte. Die Reaction aber befand sich in einem Zustande, wie wenn Jemand<lb/> eben einen starken Schlag auf den Kops bekommen hat. Sie war verblüfft; sie<lb/> kam desorganisirt zu den Wahlen und erlitt die empfindlichste Niederlage. Im<lb/> vorigen Abgeordnetenhaus war die ministerielle Partei so stark, daß, wenn auch alle<lb/> anderen Fractionen, die verschiedenen Schattirungen der Feudalen, die Katholiken,<lb/> die Polen sich verbanden, sie doch nicht im Stande waren, den Liberalen den Sieg<lb/> streitig zu machen. Und diese Majorität war ohne große Anstrengung erreicht; sie<lb/> war der natürliche Ausdruck der durchgängigen Stimmung des Landes.</p><lb/> <p xml:id="ID_840"> Ganz anders liegt die Sache jetzt. Nicht als ob das Ministerium in der Mei¬<lb/> nung des Landes gesunken wäre, oder als ob man jetzt gleichgültig die Männer<lb/> scheiden sehen würde, deren Eintritt in's Amt vor drei Jahren mit so lautem und<lb/> einmüthigcm Jubel begrüßt wurde. Aber die Flitterwochen dieses Ministeriums sind<lb/> doch seit lange vorüber. Auch mit den eigenen Anhängern hat es nicht an allerlei<lb/> Reibungen und kleinen Zerwürfnissen gefehlt, welche den Zusammenhang zwar nicht<lb/> zerstört, aber doch etwas gelockert haben. Die Feudalen haben sich inzwischen aus<lb/> ihrer Betäubung erholt und rücken neu gerüstet, mit frischen Bundesgenossen ver¬<lb/> stärkt auf den Kampfplatz. Die liberale Partei dagegen tritt nicht mehr ganz mit<lb/> der früheren Einigkeit auf; sie hat sich in zwei Nuancen, eine mehr gemäßigte und<lb/> eine mehr fortgeschrittene, gespalten, welche aber hoffentlich doch am Tage der Ent¬<lb/> scheidung vereinigt kämpfen werden. Wenigstens werden sie einsehen müssen,<lb/> daß die beiden Schattirungen der liberalen Partei sich einander näher stehen als eine<lb/> von ihnen den Feudalen, und duß es ein Frevel am liberalen Princip sein würde,<lb/> wenn durch die Uneinigkeit der etwas mehr oder etwas weniger Fortgeschrittener es<lb/> den Feudalen auch nur an einer einzigen Stelle gelingen sollte, den Sieg zu er¬<lb/> ringen. Es gab Zeiten, in denen die Lutheraner und Calvinisten sich mit solcher<lb/> Heftigkeit bekämpften, daß sie darüber ihren gemeinsamen, weit gefährlicheren Feind<lb/> vergaßen; der Katholicismus schürte den Kampf und strich den Kampfpreis ein.<lb/> Die Altconstitutioncllcn und die deutsche Fortschrittspartei werden hoffentlich in diesen<lb/> Fehler nicht verfallen; aus dem Behagen, mit welchem die Kreuzzeitung jeden kleinen<lb/> Zwiespalt der beiden verwandten Fractionen registrirt, könnten diese wenigstens<lb/> lernen, wem sie durch ihre Uneinigkeit nützen.</p><lb/> <p xml:id="ID_841" next="#ID_842"> Bevor wir die Vorbereitungen, welche die verschiedenen Parteien für die Wahlen<lb/> gemacht, die Allianzen, welche sie geschlossen haben, schildern, müssen wir mit wenigen<lb/> Worten anerkennend die Schritte erwähnen, welche der Minister des Innern gethan<lb/> hat, um die Freiheit der Wahlen zu sichern, um sie vor ungesetzlichen oder unberech-</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV. 1861. 35</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0283]
hindurch gerettet hatte. Auch die demokratische Partei, welche seit der Octroyirung
der Verfassung sich schmollend von politischen Leben zurückgezogen hatte, kehrte jetzt
bei der in Aussicht stehenden Freiheit der Wahlen auf den politischen Kampfplatz
zurück. Aber auch sie schloß sich der ministeriellen Partei an. Die Demokratie ver¬
zichtete darauf, eigene Kandidaten aufzustellen. Abgesehen von der Reaction bildete
das ganze Land eine große Partei, welche die Unterstützung der Regierung sich zur
Aufgabe stellte. Die Reaction aber befand sich in einem Zustande, wie wenn Jemand
eben einen starken Schlag auf den Kops bekommen hat. Sie war verblüfft; sie
kam desorganisirt zu den Wahlen und erlitt die empfindlichste Niederlage. Im
vorigen Abgeordnetenhaus war die ministerielle Partei so stark, daß, wenn auch alle
anderen Fractionen, die verschiedenen Schattirungen der Feudalen, die Katholiken,
die Polen sich verbanden, sie doch nicht im Stande waren, den Liberalen den Sieg
streitig zu machen. Und diese Majorität war ohne große Anstrengung erreicht; sie
war der natürliche Ausdruck der durchgängigen Stimmung des Landes.
Ganz anders liegt die Sache jetzt. Nicht als ob das Ministerium in der Mei¬
nung des Landes gesunken wäre, oder als ob man jetzt gleichgültig die Männer
scheiden sehen würde, deren Eintritt in's Amt vor drei Jahren mit so lautem und
einmüthigcm Jubel begrüßt wurde. Aber die Flitterwochen dieses Ministeriums sind
doch seit lange vorüber. Auch mit den eigenen Anhängern hat es nicht an allerlei
Reibungen und kleinen Zerwürfnissen gefehlt, welche den Zusammenhang zwar nicht
zerstört, aber doch etwas gelockert haben. Die Feudalen haben sich inzwischen aus
ihrer Betäubung erholt und rücken neu gerüstet, mit frischen Bundesgenossen ver¬
stärkt auf den Kampfplatz. Die liberale Partei dagegen tritt nicht mehr ganz mit
der früheren Einigkeit auf; sie hat sich in zwei Nuancen, eine mehr gemäßigte und
eine mehr fortgeschrittene, gespalten, welche aber hoffentlich doch am Tage der Ent¬
scheidung vereinigt kämpfen werden. Wenigstens werden sie einsehen müssen,
daß die beiden Schattirungen der liberalen Partei sich einander näher stehen als eine
von ihnen den Feudalen, und duß es ein Frevel am liberalen Princip sein würde,
wenn durch die Uneinigkeit der etwas mehr oder etwas weniger Fortgeschrittener es
den Feudalen auch nur an einer einzigen Stelle gelingen sollte, den Sieg zu er¬
ringen. Es gab Zeiten, in denen die Lutheraner und Calvinisten sich mit solcher
Heftigkeit bekämpften, daß sie darüber ihren gemeinsamen, weit gefährlicheren Feind
vergaßen; der Katholicismus schürte den Kampf und strich den Kampfpreis ein.
Die Altconstitutioncllcn und die deutsche Fortschrittspartei werden hoffentlich in diesen
Fehler nicht verfallen; aus dem Behagen, mit welchem die Kreuzzeitung jeden kleinen
Zwiespalt der beiden verwandten Fractionen registrirt, könnten diese wenigstens
lernen, wem sie durch ihre Uneinigkeit nützen.
Bevor wir die Vorbereitungen, welche die verschiedenen Parteien für die Wahlen
gemacht, die Allianzen, welche sie geschlossen haben, schildern, müssen wir mit wenigen
Worten anerkennend die Schritte erwähnen, welche der Minister des Innern gethan
hat, um die Freiheit der Wahlen zu sichern, um sie vor ungesetzlichen oder unberech-
Grenzboten IV. 1861. 35
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