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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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seltsamen Gegensätzen der ganzen europäischen Politik beruht, so zeigt das nur,
daß die Bildung des historischen Sinns mock viel zu wünschen übrig läßt.
Rom kann heute durch Rom ebensowenig reformiri werden, als zu den Zeiten
Luthers; der Fels, auf dem die Kirche gebaut ist, kann unter dem äußeren
Stoß zusammenbrechen, er kann sich aber nicht umwandeln. Glücklicherweise
sind andere Kräfte vorhanden, welche das Werk unternehmen werden; wie vor
drei Jahrhunderten die deutschen Stämme sich losrissen, so sind jetzt die ro¬
manischen Nationen im Begriff sich auf eigene Füße zu stellen.

Man thäte indessen dem Dichter einerseits zu viel Ehre an, andererseits
bürdete man ihm eine zu große Verantwortung auf, wenn man annähme,
dieser letzte Schlußeffect sei das nothwendige Resultat der vorhergehenden Er¬
zählung. Er ist vielmehr im eigentltchsten Sinne best Worts angeklebt und
verhält sich zum Inhalt des Vorigen ungefähr wie ein Ballet, das man zur
-Abwechselung auf ein Trauerspiel folgen läßt. Wenn man aus den 8 ersten
Bänden irgend einen bestimmten Eindruck empfängt (was freilich bei Gutzkow
immer nur bedingt der Fall ist), so ist es der, daß die Zustände der katholischen
Kirche vollständig in Fäulniß übergegangen sind und nicht die mindeste Hoff¬
nung geben.

In den "Rittern vom Geist" hatte Gutzkow die Massenhaftigkeit der
Episoden dadurch zusammengehalten, daß er eine bestimmte Intrigue in den
Mittelpunkt stellte, sie scharf markirte und dem Leser beständig wieder in Er¬
innerung brachte. Diese Intrigue eignete sich auch darum zu ihrem Zweck,
weil sie mit dem Kern der Frage eng zusammenhängt; um Europa zu refor-
miren. brauchen die Ritter vom Geist sehr viel Geld, und dieses Geld soll
durch einen verwickelten Erbschaftsproceß gewonnen werden. Genau so hatte
es Eugen Tue im "Ewigen Juden" gemacht, nur daß bei ihm nicht die Li¬
beralen, sondern die Jesuiten die Maschine dirigirten, wozu sie sich in der
That mehr eignen.

Ein solcher Mittelpunkt fehlt in dem neuen Roman, der deshalb wei
mehr aus einander fällt. Die Personen, um welche die Geschichte sich dreht, die
im ersten Bande vollständig charakterisirt werden, und die in den mannigfal¬
tigsten Wandlungen von Neuem immer austreten -- Lucinde und Klingsobr --
scheinen zu der eigentlichen Tendenz des Romans nicht die geringste Beziehung
ju haben; die Breite, in welcher die Erbärmlichkeit und Verworfenheit ihrer
Umgebung im ersten Bande geschildert wird, scheint mit der großen Frage,
was aus der katholischen Kirche werden solle, nicht das Mindeste zu thun zu
haben. Indeß irgend eine Absicht muß doch dabei gewesen sein, und wir
wollen versuchen, sie zu entdecken.

Es scheint, als ob Gutzkow den Einfluß habe untersuchen wollen, den
die Kirche auf das Gemüth als solches ausübt. Er wollte zeigen, wie be-


seltsamen Gegensätzen der ganzen europäischen Politik beruht, so zeigt das nur,
daß die Bildung des historischen Sinns mock viel zu wünschen übrig läßt.
Rom kann heute durch Rom ebensowenig reformiri werden, als zu den Zeiten
Luthers; der Fels, auf dem die Kirche gebaut ist, kann unter dem äußeren
Stoß zusammenbrechen, er kann sich aber nicht umwandeln. Glücklicherweise
sind andere Kräfte vorhanden, welche das Werk unternehmen werden; wie vor
drei Jahrhunderten die deutschen Stämme sich losrissen, so sind jetzt die ro¬
manischen Nationen im Begriff sich auf eigene Füße zu stellen.

Man thäte indessen dem Dichter einerseits zu viel Ehre an, andererseits
bürdete man ihm eine zu große Verantwortung auf, wenn man annähme,
dieser letzte Schlußeffect sei das nothwendige Resultat der vorhergehenden Er¬
zählung. Er ist vielmehr im eigentltchsten Sinne best Worts angeklebt und
verhält sich zum Inhalt des Vorigen ungefähr wie ein Ballet, das man zur
-Abwechselung auf ein Trauerspiel folgen läßt. Wenn man aus den 8 ersten
Bänden irgend einen bestimmten Eindruck empfängt (was freilich bei Gutzkow
immer nur bedingt der Fall ist), so ist es der, daß die Zustände der katholischen
Kirche vollständig in Fäulniß übergegangen sind und nicht die mindeste Hoff¬
nung geben.

In den „Rittern vom Geist" hatte Gutzkow die Massenhaftigkeit der
Episoden dadurch zusammengehalten, daß er eine bestimmte Intrigue in den
Mittelpunkt stellte, sie scharf markirte und dem Leser beständig wieder in Er¬
innerung brachte. Diese Intrigue eignete sich auch darum zu ihrem Zweck,
weil sie mit dem Kern der Frage eng zusammenhängt; um Europa zu refor-
miren. brauchen die Ritter vom Geist sehr viel Geld, und dieses Geld soll
durch einen verwickelten Erbschaftsproceß gewonnen werden. Genau so hatte
es Eugen Tue im „Ewigen Juden" gemacht, nur daß bei ihm nicht die Li¬
beralen, sondern die Jesuiten die Maschine dirigirten, wozu sie sich in der
That mehr eignen.

Ein solcher Mittelpunkt fehlt in dem neuen Roman, der deshalb wei
mehr aus einander fällt. Die Personen, um welche die Geschichte sich dreht, die
im ersten Bande vollständig charakterisirt werden, und die in den mannigfal¬
tigsten Wandlungen von Neuem immer austreten — Lucinde und Klingsobr —
scheinen zu der eigentlichen Tendenz des Romans nicht die geringste Beziehung
ju haben; die Breite, in welcher die Erbärmlichkeit und Verworfenheit ihrer
Umgebung im ersten Bande geschildert wird, scheint mit der großen Frage,
was aus der katholischen Kirche werden solle, nicht das Mindeste zu thun zu
haben. Indeß irgend eine Absicht muß doch dabei gewesen sein, und wir
wollen versuchen, sie zu entdecken.

Es scheint, als ob Gutzkow den Einfluß habe untersuchen wollen, den
die Kirche auf das Gemüth als solches ausübt. Er wollte zeigen, wie be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/255>, abgerufen am 26.06.2024.