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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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auffinden ließ; für die Kunst und Poesie des Mittelalters, für die Dichter
der Neuzeit, welche in das Dunkel des innerlichen Lebens die Helligkeit des
Bewußtseins brachten. Und wie die Individualität, so war auch ihre ein¬
zelne Aeußerung und ganz zufällige Erscheinung über Alles berechtigt; denn
darin und in der bestimmten Realität der umgebenden Welt trat ja. was
innerlich in jener gährte und wühlte, mit schlagender Gewißheit vor die An¬
schauung.

Natürlich konnte die bildende Kunst, wie die Literatur, nicht in die Tiefe
und du' feinen Schwingungen des Gefühlslebens eingehen: obwol sie es auch,
wie wir bald sehen werden, an derartigen Versuchen nicht fehlen ließ. Nur
um so mehr ging sie darauf aus. die leidenschaftlichen Affecte. oje, unbän¬
digen Bewegungen des ausbrechenden Gemüthes in ihrem ganz unverhüllten
Ausdruck wiederzugeben und ihre Wirkung durch die naturtreue Erscheinung
des Details zu verstärken. Hierin ging sie mit der Literatur in merkwürdigem
Einklange Hand in Hand. Hatte Lamartine mit seinen Nsäit^lions poeti-
ques (aus dem Jahre 1820) das Feldzeichen zum Ausdruck einer maßlosen
Gefühlsschwärmerei gegeben, die jedes Formgesetz abwarf: so setzte Victor
Hugo die Kunst in die Erschütterung der Seele durch das Gräßliche und
Furchtbare, dem er mittelst der haarscharfen Bestimmtheit der äußeren Scenerie
den täuschenden Schein des wirklichen Lebens zu geben versuchte (interessant
als das Programm der Schule ist in dieser Beziehung die Vorrede zum
Cromwell). Es war die Poesie der Verzweiflung, wie Goethe sie nannte.
Das Phantastische sollte als genaues Abbild der Wirklichkeit den Leser oder
Zuschauer in die Spannung des reellen Momentes versetzen. Die deutsche
Romantik hat ganz ähnliche Dinge aufzuweisen: auch sie ging auf die Er¬
schütterung des Gemüthes aus, und Friedrich Schlegel verlangte, um sie desto
wirksamer zu machen, als ein wesentliches Moment der Poesie die historische
Treue des Details.

Es ist begreiflich, daß der Maler, der vor Allem das Phantastische
suchte, mit Vorliebe nach den Gestalten der Poesie griff, in denen es ihm zu
ergreifender Erscheinung herausgebildet entgegenkam; überall her, aus Dante,
Shakespeare, Goethe, Byron, Walter Scott holte er seine Motive, und wie
die Dichter der Zeit, da sie lediglich eine besondere Empfindungsweise dar¬
stellen wollten und es ihnen nur auf die Wahrheit des Details ankam, schlie߬
lich jeden beliebigen Stoff nahmen, um ihm jene einzubilden: so war es für
Delacroix und seine Nachfolger ein Leichtes, jeden Vorfall, jedes Gebiet der
Sage und Geschichte ihrer Phantasie anzupassen. Jener malte sogar eine
Medea. die im Begriffe ist ihre Kinder zu todten^ er stellte einfach ein von
der Aufregung der Leidenschaft bis zur Wildheit getriebenes Weib dar. Da¬
her jene Fruchtbarkeit, die sich in allen Gattungen versuchte; daher aber auch


auffinden ließ; für die Kunst und Poesie des Mittelalters, für die Dichter
der Neuzeit, welche in das Dunkel des innerlichen Lebens die Helligkeit des
Bewußtseins brachten. Und wie die Individualität, so war auch ihre ein¬
zelne Aeußerung und ganz zufällige Erscheinung über Alles berechtigt; denn
darin und in der bestimmten Realität der umgebenden Welt trat ja. was
innerlich in jener gährte und wühlte, mit schlagender Gewißheit vor die An¬
schauung.

Natürlich konnte die bildende Kunst, wie die Literatur, nicht in die Tiefe
und du' feinen Schwingungen des Gefühlslebens eingehen: obwol sie es auch,
wie wir bald sehen werden, an derartigen Versuchen nicht fehlen ließ. Nur
um so mehr ging sie darauf aus. die leidenschaftlichen Affecte. oje, unbän¬
digen Bewegungen des ausbrechenden Gemüthes in ihrem ganz unverhüllten
Ausdruck wiederzugeben und ihre Wirkung durch die naturtreue Erscheinung
des Details zu verstärken. Hierin ging sie mit der Literatur in merkwürdigem
Einklange Hand in Hand. Hatte Lamartine mit seinen Nsäit^lions poeti-
ques (aus dem Jahre 1820) das Feldzeichen zum Ausdruck einer maßlosen
Gefühlsschwärmerei gegeben, die jedes Formgesetz abwarf: so setzte Victor
Hugo die Kunst in die Erschütterung der Seele durch das Gräßliche und
Furchtbare, dem er mittelst der haarscharfen Bestimmtheit der äußeren Scenerie
den täuschenden Schein des wirklichen Lebens zu geben versuchte (interessant
als das Programm der Schule ist in dieser Beziehung die Vorrede zum
Cromwell). Es war die Poesie der Verzweiflung, wie Goethe sie nannte.
Das Phantastische sollte als genaues Abbild der Wirklichkeit den Leser oder
Zuschauer in die Spannung des reellen Momentes versetzen. Die deutsche
Romantik hat ganz ähnliche Dinge aufzuweisen: auch sie ging auf die Er¬
schütterung des Gemüthes aus, und Friedrich Schlegel verlangte, um sie desto
wirksamer zu machen, als ein wesentliches Moment der Poesie die historische
Treue des Details.

Es ist begreiflich, daß der Maler, der vor Allem das Phantastische
suchte, mit Vorliebe nach den Gestalten der Poesie griff, in denen es ihm zu
ergreifender Erscheinung herausgebildet entgegenkam; überall her, aus Dante,
Shakespeare, Goethe, Byron, Walter Scott holte er seine Motive, und wie
die Dichter der Zeit, da sie lediglich eine besondere Empfindungsweise dar¬
stellen wollten und es ihnen nur auf die Wahrheit des Details ankam, schlie߬
lich jeden beliebigen Stoff nahmen, um ihm jene einzubilden: so war es für
Delacroix und seine Nachfolger ein Leichtes, jeden Vorfall, jedes Gebiet der
Sage und Geschichte ihrer Phantasie anzupassen. Jener malte sogar eine
Medea. die im Begriffe ist ihre Kinder zu todten^ er stellte einfach ein von
der Aufregung der Leidenschaft bis zur Wildheit getriebenes Weib dar. Da¬
her jene Fruchtbarkeit, die sich in allen Gattungen versuchte; daher aber auch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/188>, abgerufen am 23.07.2024.