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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Christus am Oelberge, Sardanapal, der seine Frauen, Pagen und Pferde
niedermachen läßt, auf dem Scheiterhaufen, der Tod Marino Falieri's,
Milton und seine Töchter. In jedem Bilde war es wieder auf eine eindrin¬
gende, gleichsam einschneiende Wirkung abgesehen: die Phantasie des Be¬
schauers sollte wie mit Gewalt festgehalten werden, indem ihn der Schein
ganz in die Wirklichkeit, in die Empfindung des reellen Daseins hineinzog.
Daher scheute sich auch der Maler nicht, keck in die leidenschaftliche Währung
der Tagesgeschichte zu greifen und die wilde Erregung der Gegenwart ganz
so darzustellen, wie sie sich in der Aufrüttelung der rohesten menschlichen
Kräfte zeigte. Er malte nach dem Jnliaufstande die Freiheit auf den Barri¬
kaden des Jahres 1830: über einem wüsten Durcheinander von Leichnamen
und einer brutalen Volksmasse erhebt sich die Göttin der Freiheit in phrygi-
scher Mütze, nicht als ein ideales Weib, sondern als das in die Alltäglich¬
keit hinabgezerrte Abbild des unbändigen Volkes, dem es lediglich um die
That und nicht um seine Erscheinung zu thun ist. Aber zugleich zeigte De-
lacroix auf's Neue, wie seine Kunst überall zu Hause sei und auch den
Schein des Vergangenen greifbar vorzuführen, die Gestalten der Poeten zu
verkörpern wisse; in demselben Salon von 1831 war seine Ermordung des
Bischofs von Lüttich (nach Walter Scott), der Cardinal Richelieu in seiner
Kapelle, der König Johann in der Schlacht von Poiriers ausgestellt.

Schon Mitte der zwanziger Jahre war Delacroix zum Führer einer
neuen Richtung proclamut; die Bezeichnung "romantische Schule" kam auf
und war bald nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Malerei einge¬
bürgert. Sein Erfolg war, wenn auch schon wegen der groben Fehler in
Form und Modellirung und der Unzulänglichkeit in den Vorbedingungen der
Kunst nicht unbestritten, doch entschieden. Denn die Eigenthümlichkeit seines
Talents ging mit der allgemeinen Stimmung der Zeit denselben Weg. Des
Zwangs und der allgemeinen Regeln, in welche sich die Kunst und Literatur
lange genug hatten schmiegen müssen, war man überdrüssig; das gleichför¬
mige Einerlei der classischen Convenienz ward auch vom Publicum als
drückende Fessel empfunden. Zudem warf die Langeweile des restaurirten
Bourbon'schen Elementes die Phantasie ni sich selbst zurück; und diese fand
nun in dem ungezügelten Herumschweifen auf dem Felde heftiger Empfin¬
dungen und den mannigfaltigen Gebieten der aufgeschlossenen Vergangenheit
einen bisher ungekannten, daher um so größeren Reiz. Die Gegenwart konnte
die Gemüther nicht beschäftigen, und die classische Welt war abgethan. Die
individuelle Natur sollte ihr volles Recht haben; nur die Welt hatte Werth
und Geltung, welche die Unendlichkeit des Seelenlebens in sich hinein- und
aus sich herausfühlen ließ. Daher das lebhafte Interesse für die Perioden
der Geschichte, in denen sich das ergreifende Wechselspiel tiefer Gemüthsregungm


Grenzboten IV. 1861. 23

Christus am Oelberge, Sardanapal, der seine Frauen, Pagen und Pferde
niedermachen läßt, auf dem Scheiterhaufen, der Tod Marino Falieri's,
Milton und seine Töchter. In jedem Bilde war es wieder auf eine eindrin¬
gende, gleichsam einschneiende Wirkung abgesehen: die Phantasie des Be¬
schauers sollte wie mit Gewalt festgehalten werden, indem ihn der Schein
ganz in die Wirklichkeit, in die Empfindung des reellen Daseins hineinzog.
Daher scheute sich auch der Maler nicht, keck in die leidenschaftliche Währung
der Tagesgeschichte zu greifen und die wilde Erregung der Gegenwart ganz
so darzustellen, wie sie sich in der Aufrüttelung der rohesten menschlichen
Kräfte zeigte. Er malte nach dem Jnliaufstande die Freiheit auf den Barri¬
kaden des Jahres 1830: über einem wüsten Durcheinander von Leichnamen
und einer brutalen Volksmasse erhebt sich die Göttin der Freiheit in phrygi-
scher Mütze, nicht als ein ideales Weib, sondern als das in die Alltäglich¬
keit hinabgezerrte Abbild des unbändigen Volkes, dem es lediglich um die
That und nicht um seine Erscheinung zu thun ist. Aber zugleich zeigte De-
lacroix auf's Neue, wie seine Kunst überall zu Hause sei und auch den
Schein des Vergangenen greifbar vorzuführen, die Gestalten der Poeten zu
verkörpern wisse; in demselben Salon von 1831 war seine Ermordung des
Bischofs von Lüttich (nach Walter Scott), der Cardinal Richelieu in seiner
Kapelle, der König Johann in der Schlacht von Poiriers ausgestellt.

Schon Mitte der zwanziger Jahre war Delacroix zum Führer einer
neuen Richtung proclamut; die Bezeichnung „romantische Schule" kam auf
und war bald nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Malerei einge¬
bürgert. Sein Erfolg war, wenn auch schon wegen der groben Fehler in
Form und Modellirung und der Unzulänglichkeit in den Vorbedingungen der
Kunst nicht unbestritten, doch entschieden. Denn die Eigenthümlichkeit seines
Talents ging mit der allgemeinen Stimmung der Zeit denselben Weg. Des
Zwangs und der allgemeinen Regeln, in welche sich die Kunst und Literatur
lange genug hatten schmiegen müssen, war man überdrüssig; das gleichför¬
mige Einerlei der classischen Convenienz ward auch vom Publicum als
drückende Fessel empfunden. Zudem warf die Langeweile des restaurirten
Bourbon'schen Elementes die Phantasie ni sich selbst zurück; und diese fand
nun in dem ungezügelten Herumschweifen auf dem Felde heftiger Empfin¬
dungen und den mannigfaltigen Gebieten der aufgeschlossenen Vergangenheit
einen bisher ungekannten, daher um so größeren Reiz. Die Gegenwart konnte
die Gemüther nicht beschäftigen, und die classische Welt war abgethan. Die
individuelle Natur sollte ihr volles Recht haben; nur die Welt hatte Werth
und Geltung, welche die Unendlichkeit des Seelenlebens in sich hinein- und
aus sich herausfühlen ließ. Daher das lebhafte Interesse für die Perioden
der Geschichte, in denen sich das ergreifende Wechselspiel tiefer Gemüthsregungm


Grenzboten IV. 1861. 23
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/187>, abgerufen am 28.12.2024.