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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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was an der Fülle seines Geistes, der nie in diese Lage gekommen ist. Frei¬
lich sührt die Leidenschaft zu Conflicten und die Art, wie man diese zu be¬
herrschen oder überwinden weiß, zeigt an, aus welchem Holz man geschnitten
ist. Um ein sittlicher Charakter zu sein, hat man noch mehr zu thun, als
die zehn Gebote zu befolgen; das hat der Volkswitz auch ganz richtig ge¬
fühlt, welcher ein elftes, ein Cardinalgebot in den verschiedensten Formen auf¬
gestellt hat, und so sei es auch mir erlaubt, eine neue Form dafür vorzu¬
schlagen. Das elfte Gebot heißt: Sei kein Waschlappen!

Gegen dieses Gebot sündigt aber die "Lucinde" auf eine ebenso uner¬
hörte Weise, als die Dramen des Herrn von Kotzebue. Die ganze Lucinde
ist aus Figuren zusammengesetzt, die nichts Bestimmtes zu denken, zu em¬
pfinden oder zu wollen im Stande sind; aus Gedanken,, die nie fertig wer¬
den, aus Empfindungen, die ganz so aussehen wie Seufzer der verhaltenen
Langenweile, aus Velleitäten, die darum ans schmuzige streifen, welche zu
nichts führen; und dies Alles ist in einem Ton der Selbstanbetung vorge¬
tragen, welcher das Gefühl der hohlsten Unfruchtbarkeit zu überschreiten
scheint.

Wenn wir von dem Verfasser der "Lucinde" Nichts wüßten, er mag sonst
der vortrefflichste Mensch von der Welt gewesen sein, sein Buch aber werden
wir als unsittlich brandmarken, weil es die Schwäche und zwar die Schwäche
in dieses Worts verwegenster Bedeutung als Stärke verherrlicht, und so dem
Volk falsche Götzenbilder aufstellt.

Aber auch selbst die Schwäche kann durch die Kraft des Dichters so hin-
reißend wirken, daß man ihr wenigstens nach einer Seite hin die Anerkennung
nickt versagen darf. Als Beispiel führe ,es ein bekanntes französisches Buch
an: "Manon Lescaut". Der Held dieser Novelle ist gewiß ein Schwächling,
und daß er einer Dirne bis in's Bagno nachläuft, ist gewiß nicht fein; aber
die Stärke der Leidenschaft, welche dieses schwache Subject ergreift, ist so hin¬
reißend geschildert, daß man während der Lectüre an die Schwäche nicht denkt.
Das Buch ist trotzdem zu tadeln, aber nur von einer Seite. Ganz ähnlich
ist es mit einer späteren Novelle "verrmsn", die an poetischem Werth hoch über
jener steht, und bei der es gewiß keinem Leser einfallen wird, an den Kate¬
chismus zu denken. Ganz anders in der "Lucinde". Hier stellt die Ohnmacht
die Ohnmacht dar, und täuscht sich doppelt, indem sie sowol sich, als ihren
Gegenstand für groß hält.

Die "Lucinde" sündigt aber noch nach einer andern Seite hin, und das
ist eins der schlimmsten Verbrechen der Romantik, indem sie nämlich das sinn¬
liche und geistige Element der Liebe auf eine sinnlose Weise durcheinanderwirft.

Es ist bekannt, was Lessing über den "Werther" geäußert hat: den Alten
sei so eint Leidenschaft unbekannt, und es sei der christlichen Erziehung vor-


was an der Fülle seines Geistes, der nie in diese Lage gekommen ist. Frei¬
lich sührt die Leidenschaft zu Conflicten und die Art, wie man diese zu be¬
herrschen oder überwinden weiß, zeigt an, aus welchem Holz man geschnitten
ist. Um ein sittlicher Charakter zu sein, hat man noch mehr zu thun, als
die zehn Gebote zu befolgen; das hat der Volkswitz auch ganz richtig ge¬
fühlt, welcher ein elftes, ein Cardinalgebot in den verschiedensten Formen auf¬
gestellt hat, und so sei es auch mir erlaubt, eine neue Form dafür vorzu¬
schlagen. Das elfte Gebot heißt: Sei kein Waschlappen!

Gegen dieses Gebot sündigt aber die „Lucinde" auf eine ebenso uner¬
hörte Weise, als die Dramen des Herrn von Kotzebue. Die ganze Lucinde
ist aus Figuren zusammengesetzt, die nichts Bestimmtes zu denken, zu em¬
pfinden oder zu wollen im Stande sind; aus Gedanken,, die nie fertig wer¬
den, aus Empfindungen, die ganz so aussehen wie Seufzer der verhaltenen
Langenweile, aus Velleitäten, die darum ans schmuzige streifen, welche zu
nichts führen; und dies Alles ist in einem Ton der Selbstanbetung vorge¬
tragen, welcher das Gefühl der hohlsten Unfruchtbarkeit zu überschreiten
scheint.

Wenn wir von dem Verfasser der „Lucinde" Nichts wüßten, er mag sonst
der vortrefflichste Mensch von der Welt gewesen sein, sein Buch aber werden
wir als unsittlich brandmarken, weil es die Schwäche und zwar die Schwäche
in dieses Worts verwegenster Bedeutung als Stärke verherrlicht, und so dem
Volk falsche Götzenbilder aufstellt.

Aber auch selbst die Schwäche kann durch die Kraft des Dichters so hin-
reißend wirken, daß man ihr wenigstens nach einer Seite hin die Anerkennung
nickt versagen darf. Als Beispiel führe ,es ein bekanntes französisches Buch
an: „Manon Lescaut". Der Held dieser Novelle ist gewiß ein Schwächling,
und daß er einer Dirne bis in's Bagno nachläuft, ist gewiß nicht fein; aber
die Stärke der Leidenschaft, welche dieses schwache Subject ergreift, ist so hin¬
reißend geschildert, daß man während der Lectüre an die Schwäche nicht denkt.
Das Buch ist trotzdem zu tadeln, aber nur von einer Seite. Ganz ähnlich
ist es mit einer späteren Novelle „verrmsn", die an poetischem Werth hoch über
jener steht, und bei der es gewiß keinem Leser einfallen wird, an den Kate¬
chismus zu denken. Ganz anders in der „Lucinde". Hier stellt die Ohnmacht
die Ohnmacht dar, und täuscht sich doppelt, indem sie sowol sich, als ihren
Gegenstand für groß hält.

Die „Lucinde" sündigt aber noch nach einer andern Seite hin, und das
ist eins der schlimmsten Verbrechen der Romantik, indem sie nämlich das sinn¬
liche und geistige Element der Liebe auf eine sinnlose Weise durcheinanderwirft.

Es ist bekannt, was Lessing über den „Werther" geäußert hat: den Alten
sei so eint Leidenschaft unbekannt, und es sei der christlichen Erziehung vor-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/120>, abgerufen am 27.12.2024.