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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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Französische Zustände.

Man erinnert sich wol noch des Jubels der französischen Presse über das
kaiserliche Decret vom 24. November v. I,. welches die Befugnisse der Le¬
gislative erweiterte, jetzt, hieß es, macht Napoleon Ernst mit seinem Programm,
jetzt, da die Ordnung gesichert ist. soll die Freiheit das Werk krönen. Der
neue Minister des Innern, der stets als der Mann der wahren napoleo¬
nischen Ideen galt, schien eine Aera der Versöhnung einleiten zu wollen, er
forderte die Präfecten auf, den ehrenwerthen Mitgliedern der Parteien, welche
bisher dem Kaiserthum ferne gestanden, entgegenzukommen, er versicherte die
Presse der humanster Behandlung, er verhieß die in Frankreich so oft geprie-
sene und niemals verwirklichte Decentralisation. Die kaiserliche Thronrede
steigerte diese Hoffnungen noch, sie kündigte eine offne Darlegung der Situa¬
tion an und forderte die Legislative auf zu einer freimüthigen Kundgebung
ihrer Meinung, um in der Adreßdebatte alle Fragen nach ihrer Wichtigkeit zu
erschöpfen, die Veröffentlichung der wichtigsten Depeschen sollte das Land
über die auswärtigen Angelegenheiten aufklären, wahrlich, nur Uebelwollende
konnten eine neue Aera in Abrede stellen. Freilich einige skeptische Politiker
des Auslandes waren der Ansicht, daß mehr der Schein der Freiheit als ihr
Wesen den Franzosen in so überraschender Weise vescheert sei', sie mein¬
ten, die Thronrede selbst gestehe verhüllt ein, daß die Befugnisse der frühern
Kammern weit ausgedehnter gewesen, eine Adreßdebatte, unverantwortliche
Rede -- Minister, Gestattung von Verbesserungs-Anlagen, Mittheilung der
stenographischen Sitzungsberichte, gebe noch keineswegs das, was dem reprä-
sentirenden Staate wesentlich sei, nämlich eine wirksame Controle der Regierung.
Aber wer mochte auf solche schwarzsichtige Propheten hören; bisher an Hän¬
den und Füßen gebunden begrüßte man jede Erleichterung mit Freuden und
hoffte, was noch nicht sei. müsse kommen, die Bahn des Fortschritts sei einmal
betreten. Und Anfangs schienen die Begebnisse diese Aussichten wirklich zu
rechtfertigen, das Sprühfeuer der Reden von Jules Favre und Keller im Pa¬
lais Bourbon, die Declamationen des Prinzen Napoleon im Senat zeigten


Grenzboten III, 1801,
Französische Zustände.

Man erinnert sich wol noch des Jubels der französischen Presse über das
kaiserliche Decret vom 24. November v. I,. welches die Befugnisse der Le¬
gislative erweiterte, jetzt, hieß es, macht Napoleon Ernst mit seinem Programm,
jetzt, da die Ordnung gesichert ist. soll die Freiheit das Werk krönen. Der
neue Minister des Innern, der stets als der Mann der wahren napoleo¬
nischen Ideen galt, schien eine Aera der Versöhnung einleiten zu wollen, er
forderte die Präfecten auf, den ehrenwerthen Mitgliedern der Parteien, welche
bisher dem Kaiserthum ferne gestanden, entgegenzukommen, er versicherte die
Presse der humanster Behandlung, er verhieß die in Frankreich so oft geprie-
sene und niemals verwirklichte Decentralisation. Die kaiserliche Thronrede
steigerte diese Hoffnungen noch, sie kündigte eine offne Darlegung der Situa¬
tion an und forderte die Legislative auf zu einer freimüthigen Kundgebung
ihrer Meinung, um in der Adreßdebatte alle Fragen nach ihrer Wichtigkeit zu
erschöpfen, die Veröffentlichung der wichtigsten Depeschen sollte das Land
über die auswärtigen Angelegenheiten aufklären, wahrlich, nur Uebelwollende
konnten eine neue Aera in Abrede stellen. Freilich einige skeptische Politiker
des Auslandes waren der Ansicht, daß mehr der Schein der Freiheit als ihr
Wesen den Franzosen in so überraschender Weise vescheert sei', sie mein¬
ten, die Thronrede selbst gestehe verhüllt ein, daß die Befugnisse der frühern
Kammern weit ausgedehnter gewesen, eine Adreßdebatte, unverantwortliche
Rede — Minister, Gestattung von Verbesserungs-Anlagen, Mittheilung der
stenographischen Sitzungsberichte, gebe noch keineswegs das, was dem reprä-
sentirenden Staate wesentlich sei, nämlich eine wirksame Controle der Regierung.
Aber wer mochte auf solche schwarzsichtige Propheten hören; bisher an Hän¬
den und Füßen gebunden begrüßte man jede Erleichterung mit Freuden und
hoffte, was noch nicht sei. müsse kommen, die Bahn des Fortschritts sei einmal
betreten. Und Anfangs schienen die Begebnisse diese Aussichten wirklich zu
rechtfertigen, das Sprühfeuer der Reden von Jules Favre und Keller im Pa¬
lais Bourbon, die Declamationen des Prinzen Napoleon im Senat zeigten


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[0091] Französische Zustände. Man erinnert sich wol noch des Jubels der französischen Presse über das kaiserliche Decret vom 24. November v. I,. welches die Befugnisse der Le¬ gislative erweiterte, jetzt, hieß es, macht Napoleon Ernst mit seinem Programm, jetzt, da die Ordnung gesichert ist. soll die Freiheit das Werk krönen. Der neue Minister des Innern, der stets als der Mann der wahren napoleo¬ nischen Ideen galt, schien eine Aera der Versöhnung einleiten zu wollen, er forderte die Präfecten auf, den ehrenwerthen Mitgliedern der Parteien, welche bisher dem Kaiserthum ferne gestanden, entgegenzukommen, er versicherte die Presse der humanster Behandlung, er verhieß die in Frankreich so oft geprie- sene und niemals verwirklichte Decentralisation. Die kaiserliche Thronrede steigerte diese Hoffnungen noch, sie kündigte eine offne Darlegung der Situa¬ tion an und forderte die Legislative auf zu einer freimüthigen Kundgebung ihrer Meinung, um in der Adreßdebatte alle Fragen nach ihrer Wichtigkeit zu erschöpfen, die Veröffentlichung der wichtigsten Depeschen sollte das Land über die auswärtigen Angelegenheiten aufklären, wahrlich, nur Uebelwollende konnten eine neue Aera in Abrede stellen. Freilich einige skeptische Politiker des Auslandes waren der Ansicht, daß mehr der Schein der Freiheit als ihr Wesen den Franzosen in so überraschender Weise vescheert sei', sie mein¬ ten, die Thronrede selbst gestehe verhüllt ein, daß die Befugnisse der frühern Kammern weit ausgedehnter gewesen, eine Adreßdebatte, unverantwortliche Rede — Minister, Gestattung von Verbesserungs-Anlagen, Mittheilung der stenographischen Sitzungsberichte, gebe noch keineswegs das, was dem reprä- sentirenden Staate wesentlich sei, nämlich eine wirksame Controle der Regierung. Aber wer mochte auf solche schwarzsichtige Propheten hören; bisher an Hän¬ den und Füßen gebunden begrüßte man jede Erleichterung mit Freuden und hoffte, was noch nicht sei. müsse kommen, die Bahn des Fortschritts sei einmal betreten. Und Anfangs schienen die Begebnisse diese Aussichten wirklich zu rechtfertigen, das Sprühfeuer der Reden von Jules Favre und Keller im Pa¬ lais Bourbon, die Declamationen des Prinzen Napoleon im Senat zeigten Grenzboten III, 1801,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/91>, abgerufen am 22.12.2024.