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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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Versuch Klopstock's vor Augen haben, den christlichen und den nordischen, die
beide hätten scheitern müssen, auch bei größerer productiver Kraft. An phan.
tastischen Erfindungen dagegen, an Erfindungen der freien Willkür hat es den
Dichtern zu keiner Zeit gefehlt, und wenn Wieland mit seinen Phantasie-
bildern dem "Sommernachtstraum" nicht gleich kam, so hat er doch viel Re°
spectables geleistet. Aber der Fehler der Schule bestand darin, daß sie erstens
im Grunde nur für die untergeordnete Gattung der phantastischen Poesie Sinn
hatte und zweitens die Gesetze der bildenden Kunst mit den Gesetzen der Poesie
verwechselte. Für sie existirte der Laokoon nicht, für sie hatte Lessing umsonst
geschrieben. Lessing's großes Wort, daß der Gegenstand der Poesie die Hand¬
lung ist, war für sie ebenso in den Wind gesprochen, als die unmittelbar
daraus sich ergebende Folgerung, daß nur derjenige Gegenstand der Poesie
sein kann, der zu handeln im Stande ist, d. h. der Mark und Knochen hat,
und dessen Füße auf einem festen Boden stehn, auf dem Boden der Sitt¬
lichkeit.

Die Schlegel, Tieck u. f. w. sind gewiß höchst geistreiche und talentvolle
Männer gewesen, sie haben auch Nutzen gestiftet, indem sie unsern Blick in
die Weltliteratur erweiterten und das sinnliche Material der Poesie durch
Töne und Farben bereicherten; aber sie haben dreimal so großen Schaden ge¬
than, indem sie das sittliche Moment der Poesie abschwächten, und damit
die Kraft der Charakteristik und die Energie der Handlung. Die folgende
Periode unsrer Poesie ist, mit sehr wenig Ausnahmen, eine wüste Barbarei,
während sie doch von 1770--1800 auf dem besten Wege war. Die Roman¬
tiker sind freilich nicht allein daran schuld, es kamen sehr viel mitwirkende Um¬
stände hinzu, und namentlich Hettner hat ganz richtig nachgewiesen, daß
Anflüge des falschen Princips sich schon bei Goethe und Schiller zeigen. Aber
die Romantiker machten die Verkehrtheit zum Princip, und darum sollte ein
Mann wie Koberstein, bei aller Achtung vor den guten Leistungen im Ein¬
zelnen, das Verwerfliche des Ganzen schärfer hervorheben, als er bisher ge¬
than hat. Es ist an der "Emilia Galotti", an der "Minna von Barnhelm".
"Ctavigo" und an "Werther" sehr viel auszusetzen, aber diese Werke
^zeichnen den richtigen Weg, auf dem wir vorwärts kommen konnten, und
hon dem uns die Mollusken oder wenn man will die Nebelbilder der "Geno-
veva", des "Alarkvs" u. f. w. abgeführt haben.


Doch ich muß abbrechen und behalte mir für den nächsten Brief Wei¬
teres vor. Julian Schmidt.


Versuch Klopstock's vor Augen haben, den christlichen und den nordischen, die
beide hätten scheitern müssen, auch bei größerer productiver Kraft. An phan.
tastischen Erfindungen dagegen, an Erfindungen der freien Willkür hat es den
Dichtern zu keiner Zeit gefehlt, und wenn Wieland mit seinen Phantasie-
bildern dem „Sommernachtstraum" nicht gleich kam, so hat er doch viel Re°
spectables geleistet. Aber der Fehler der Schule bestand darin, daß sie erstens
im Grunde nur für die untergeordnete Gattung der phantastischen Poesie Sinn
hatte und zweitens die Gesetze der bildenden Kunst mit den Gesetzen der Poesie
verwechselte. Für sie existirte der Laokoon nicht, für sie hatte Lessing umsonst
geschrieben. Lessing's großes Wort, daß der Gegenstand der Poesie die Hand¬
lung ist, war für sie ebenso in den Wind gesprochen, als die unmittelbar
daraus sich ergebende Folgerung, daß nur derjenige Gegenstand der Poesie
sein kann, der zu handeln im Stande ist, d. h. der Mark und Knochen hat,
und dessen Füße auf einem festen Boden stehn, auf dem Boden der Sitt¬
lichkeit.

Die Schlegel, Tieck u. f. w. sind gewiß höchst geistreiche und talentvolle
Männer gewesen, sie haben auch Nutzen gestiftet, indem sie unsern Blick in
die Weltliteratur erweiterten und das sinnliche Material der Poesie durch
Töne und Farben bereicherten; aber sie haben dreimal so großen Schaden ge¬
than, indem sie das sittliche Moment der Poesie abschwächten, und damit
die Kraft der Charakteristik und die Energie der Handlung. Die folgende
Periode unsrer Poesie ist, mit sehr wenig Ausnahmen, eine wüste Barbarei,
während sie doch von 1770—1800 auf dem besten Wege war. Die Roman¬
tiker sind freilich nicht allein daran schuld, es kamen sehr viel mitwirkende Um¬
stände hinzu, und namentlich Hettner hat ganz richtig nachgewiesen, daß
Anflüge des falschen Princips sich schon bei Goethe und Schiller zeigen. Aber
die Romantiker machten die Verkehrtheit zum Princip, und darum sollte ein
Mann wie Koberstein, bei aller Achtung vor den guten Leistungen im Ein¬
zelnen, das Verwerfliche des Ganzen schärfer hervorheben, als er bisher ge¬
than hat. Es ist an der „Emilia Galotti", an der „Minna von Barnhelm".
„Ctavigo" und an „Werther" sehr viel auszusetzen, aber diese Werke
^zeichnen den richtigen Weg, auf dem wir vorwärts kommen konnten, und
hon dem uns die Mollusken oder wenn man will die Nebelbilder der „Geno-
veva", des „Alarkvs" u. f. w. abgeführt haben.


Doch ich muß abbrechen und behalte mir für den nächsten Brief Wei¬
teres vor. Julian Schmidt.


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[0487] Versuch Klopstock's vor Augen haben, den christlichen und den nordischen, die beide hätten scheitern müssen, auch bei größerer productiver Kraft. An phan. tastischen Erfindungen dagegen, an Erfindungen der freien Willkür hat es den Dichtern zu keiner Zeit gefehlt, und wenn Wieland mit seinen Phantasie- bildern dem „Sommernachtstraum" nicht gleich kam, so hat er doch viel Re° spectables geleistet. Aber der Fehler der Schule bestand darin, daß sie erstens im Grunde nur für die untergeordnete Gattung der phantastischen Poesie Sinn hatte und zweitens die Gesetze der bildenden Kunst mit den Gesetzen der Poesie verwechselte. Für sie existirte der Laokoon nicht, für sie hatte Lessing umsonst geschrieben. Lessing's großes Wort, daß der Gegenstand der Poesie die Hand¬ lung ist, war für sie ebenso in den Wind gesprochen, als die unmittelbar daraus sich ergebende Folgerung, daß nur derjenige Gegenstand der Poesie sein kann, der zu handeln im Stande ist, d. h. der Mark und Knochen hat, und dessen Füße auf einem festen Boden stehn, auf dem Boden der Sitt¬ lichkeit. Die Schlegel, Tieck u. f. w. sind gewiß höchst geistreiche und talentvolle Männer gewesen, sie haben auch Nutzen gestiftet, indem sie unsern Blick in die Weltliteratur erweiterten und das sinnliche Material der Poesie durch Töne und Farben bereicherten; aber sie haben dreimal so großen Schaden ge¬ than, indem sie das sittliche Moment der Poesie abschwächten, und damit die Kraft der Charakteristik und die Energie der Handlung. Die folgende Periode unsrer Poesie ist, mit sehr wenig Ausnahmen, eine wüste Barbarei, während sie doch von 1770—1800 auf dem besten Wege war. Die Roman¬ tiker sind freilich nicht allein daran schuld, es kamen sehr viel mitwirkende Um¬ stände hinzu, und namentlich Hettner hat ganz richtig nachgewiesen, daß Anflüge des falschen Princips sich schon bei Goethe und Schiller zeigen. Aber die Romantiker machten die Verkehrtheit zum Princip, und darum sollte ein Mann wie Koberstein, bei aller Achtung vor den guten Leistungen im Ein¬ zelnen, das Verwerfliche des Ganzen schärfer hervorheben, als er bisher ge¬ than hat. Es ist an der „Emilia Galotti", an der „Minna von Barnhelm". „Ctavigo" und an „Werther" sehr viel auszusetzen, aber diese Werke ^zeichnen den richtigen Weg, auf dem wir vorwärts kommen konnten, und hon dem uns die Mollusken oder wenn man will die Nebelbilder der „Geno- veva", des „Alarkvs" u. f. w. abgeführt haben. Doch ich muß abbrechen und behalte mir für den nächsten Brief Wei¬ teres vor. Julian Schmidt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/487>, abgerufen am 03.07.2024.