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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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nur der triviale sein, daß Stoffe, die durch den Volksmund gegangen sind,
sich besser für die praktische Darstellung eignen, als frei erfundene. -- Bei
den Tragikern treten die Götter noch mehr zurück, der Maschinengott ist sogar
noch heute in üblem Ruf; sie stehn allerdings auf einem religiösen Boden,
aber -- Religion und Mythologie sind ebensowenig dasselbe, als Religion
und Katechismus. Das Mythische in den Tragikern besteht nur darin, daß
sie eine verhältnißmäßig kleine Zahl von Stoffen behandelten. Das war
einerseits ein Vortheil, namentlich weil ein Theil dieser Stoffe sich sehr zur
Tragödie qualificirte; daß aber auch etwas Nachtheiliges darin lag für die
freie Entwicklung der Kunst, zeigt die "Elektra" des Euripides. Um die Vor¬
gänger zu überbieten, mußte man zuletzt in Ungeheuerlichkeiten gerathen. Ver¬
gleicht man etwa den Macbeth, Othello, Cäsar, Romeo oder sonst einen von
den Stoffen, die durch einen großen Dichter typisch geworden sind, mit den
Stoffen der Griechen, so möchte ich den sehn, der den Vorzug jener vor diesen
nachweisen möchte.

Bei so vielen Ketzereien erlaube man mir schnell noch eine andere. Die
Philologie ist eine grade in diesem Zeitalter zur höchsten Blüthe gesteigerte
Wissenschaft, aber Manches hat sie doch noch nicht erklärt. Gewiß sind die
homerischen Götter die prächtigsten Wesen von der Welt, aber wenn man sich
denkt, daß man zu ihnen beten sollte, so kann man ein lucianisches Gefühl
doch nicht unterdrücken. Wir begegnen aber bei den großen Schriftstellern
des Alterthums genau denselben Organen des Denkens und Empfindens, wie
bei den unsrigen; wenn man also von griechischer Frömmigkeit spricht --
wohlverstanden bei den Individuen des Volks, auf die es allein ankommt --
und dieselbe in Verhältniß zur Mythologie bringt, so wird man die Fröm¬
migkeit wohl ungefähr so auffassen wie die Lessing's, Goethe's, Schiller's,
Heine's u. s. w. Denn freilich würde ein Lucian des dritten Jahrhunderts
auch in unseren Glaubenssätzen Manches seltsam finden.

Den prächtigsten Gebrauch von der Mythologie hat Aristophanes ge¬
macht und es gibt in der That Kritiker, die ihn für einen griechischen Ortho¬
doxen halten. Wenigstens ist er kein Pietist gewesen. Einen aristophanischen
Gebrauch der Mythologie hatten die Romantiker auch wirklich in ihrer ersten
Blüthezeit im Auge, als sie noch an die alleinseligmachende Ironie glaubten:
aber ein solcher Gebrauch ist, wie berechtigt auch immer, doch nicht der höchste
der Kunst.

Auf die beiden folgenden Behauptungen einzugehn ist nicht nöthig: eine
Mythologie zu erfinden, mit Hülfe der Physik und der Ironie, und zwar sie
so zu erfinden, daß sie wirklich Glauben des Volks werden könnte, daranwar
nur in jener Zeit des philosophischen Jargons zu denken, wo man Sopha
meinte, wenn man Putzscheere sagte. Die Schlegel konnten den doppelten


nur der triviale sein, daß Stoffe, die durch den Volksmund gegangen sind,
sich besser für die praktische Darstellung eignen, als frei erfundene. — Bei
den Tragikern treten die Götter noch mehr zurück, der Maschinengott ist sogar
noch heute in üblem Ruf; sie stehn allerdings auf einem religiösen Boden,
aber — Religion und Mythologie sind ebensowenig dasselbe, als Religion
und Katechismus. Das Mythische in den Tragikern besteht nur darin, daß
sie eine verhältnißmäßig kleine Zahl von Stoffen behandelten. Das war
einerseits ein Vortheil, namentlich weil ein Theil dieser Stoffe sich sehr zur
Tragödie qualificirte; daß aber auch etwas Nachtheiliges darin lag für die
freie Entwicklung der Kunst, zeigt die „Elektra" des Euripides. Um die Vor¬
gänger zu überbieten, mußte man zuletzt in Ungeheuerlichkeiten gerathen. Ver¬
gleicht man etwa den Macbeth, Othello, Cäsar, Romeo oder sonst einen von
den Stoffen, die durch einen großen Dichter typisch geworden sind, mit den
Stoffen der Griechen, so möchte ich den sehn, der den Vorzug jener vor diesen
nachweisen möchte.

Bei so vielen Ketzereien erlaube man mir schnell noch eine andere. Die
Philologie ist eine grade in diesem Zeitalter zur höchsten Blüthe gesteigerte
Wissenschaft, aber Manches hat sie doch noch nicht erklärt. Gewiß sind die
homerischen Götter die prächtigsten Wesen von der Welt, aber wenn man sich
denkt, daß man zu ihnen beten sollte, so kann man ein lucianisches Gefühl
doch nicht unterdrücken. Wir begegnen aber bei den großen Schriftstellern
des Alterthums genau denselben Organen des Denkens und Empfindens, wie
bei den unsrigen; wenn man also von griechischer Frömmigkeit spricht —
wohlverstanden bei den Individuen des Volks, auf die es allein ankommt —
und dieselbe in Verhältniß zur Mythologie bringt, so wird man die Fröm¬
migkeit wohl ungefähr so auffassen wie die Lessing's, Goethe's, Schiller's,
Heine's u. s. w. Denn freilich würde ein Lucian des dritten Jahrhunderts
auch in unseren Glaubenssätzen Manches seltsam finden.

Den prächtigsten Gebrauch von der Mythologie hat Aristophanes ge¬
macht und es gibt in der That Kritiker, die ihn für einen griechischen Ortho¬
doxen halten. Wenigstens ist er kein Pietist gewesen. Einen aristophanischen
Gebrauch der Mythologie hatten die Romantiker auch wirklich in ihrer ersten
Blüthezeit im Auge, als sie noch an die alleinseligmachende Ironie glaubten:
aber ein solcher Gebrauch ist, wie berechtigt auch immer, doch nicht der höchste
der Kunst.

Auf die beiden folgenden Behauptungen einzugehn ist nicht nöthig: eine
Mythologie zu erfinden, mit Hülfe der Physik und der Ironie, und zwar sie
so zu erfinden, daß sie wirklich Glauben des Volks werden könnte, daranwar
nur in jener Zeit des philosophischen Jargons zu denken, wo man Sopha
meinte, wenn man Putzscheere sagte. Die Schlegel konnten den doppelten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/486>, abgerufen am 22.07.2024.