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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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der Bestimmtheit der verschiedenen Stämme, seiner natürlichen Erscheinung und
malerischen Sitte, in der jetzt allein noch ein Schein von freier, offner Freude,
von naivem Sich-gehen-lassen ist. Dieses Genre ist wohl zu unterscheiden
von dem des grundsätzlichen Realismus, dem es mit der Darstellung der Bauern¬
welt gewissermaßen Ernst ist, weil sie ihm als ein wichtiger und bedeutender
Gegenstand der Kunst erscheint. Hieran schließt sich endlich das eigentliche
Sittenbild aus der Gegenwart, das die gemüthliche Stille des Familienlebens
der gebildeten Klassen in eleganter Erscheinung malerisch behandelt. -- Die
Nachtheile, welchen dieser ganze Zweig der modernen Malerei unterliegt, sind
schon im vorigen Kapitel berührt; im Ganzen sind und bleiben die Holländer
und Niederländer unerreichtes Borbild.

Andrerseits sucht der Maler nur die malerische Erscheinung über¬
haupt, welche leicht in die Anschauung eingeht und zur Phantasie spricht,
ohne das Interesse einer dem Menschen näher oder entfernter liegenden Ver¬
gangenheit hinzuzuziehen. Er sucht das Malerische, wo es sich allenfalls in
der Gegenwart noch findet: im Süden und im Orient. Noch immer müs¬
sen die schönen Menschen des italienischen Bodens herhalten; um so mehr,
als ein Ueberschuß von geistigem Leben von ihrem Aeußeren auf ein un¬
thätiges, aber fähiges, gleichsam schlummerndes Innere zurückweist und ihnen
die Tiefe des Malerischen gibt. Besonders aber ist der Orient bis zum Ueber¬
maß ausgebeutet worden. Der einfache noch unzersetzte und unzerrissene
Zusammenhang des Menschen mit der Natur, aus dem wol eine Seele spricht,
aber noch träumerisch versenkt in die stoffliche Welt, der Schein des glühen¬
den Lichts, in dem die Dinge wie verkocht sind, und die doch volle unge¬
brochene Farbe, die üppige und unverholene sinnliche Existenz: das Alles zog
die moderne Kunst um so mehr an. als sie emsig nach einem Stück ästheti¬
scher Wirklichkeit suchte und der unsrigen, die sie von tausend geistigen Be¬
zügen zersetzt fand, überdrüssig war. Da sich hier der Mensch aus der Natur
noch nicht in sich zurückgenommen hat, sondern gerade aus dem Leben mit
derselben seinen Charakter empfängt, so gehen in den meisten Fällen Genre
und Landschaft in einander über: man weiß nicht, ist der Mensch oder die
unbelebte Natur das eigentliche Motiv. Doch tritt die orientalische Land¬
schaft, die in ihren bedeutenden Leistungen schon der Vergangenheit angehört,
hier und da als selbständiger Zweig auf und vermittelt dann die realistische
mit der classischen; sie verbindet die Wahrheit der Erscheinung und das Ver¬
schwimmen der Natur in Licht und Luft mit den Formen einer mannigfaltigen
Erdbildung und einer reichen Komposition. Auch in dieser ganzen Gattung
treten wieder verschiedene Richtungen auf: Bald sucht der Maler mehr die be¬
stimmte farbenreiche Erscheinung, bald mehr das träumerische Wesen des
Orients und den Duft, der über dem Ganzen schwebt, wiederzugeben. Auch


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der Bestimmtheit der verschiedenen Stämme, seiner natürlichen Erscheinung und
malerischen Sitte, in der jetzt allein noch ein Schein von freier, offner Freude,
von naivem Sich-gehen-lassen ist. Dieses Genre ist wohl zu unterscheiden
von dem des grundsätzlichen Realismus, dem es mit der Darstellung der Bauern¬
welt gewissermaßen Ernst ist, weil sie ihm als ein wichtiger und bedeutender
Gegenstand der Kunst erscheint. Hieran schließt sich endlich das eigentliche
Sittenbild aus der Gegenwart, das die gemüthliche Stille des Familienlebens
der gebildeten Klassen in eleganter Erscheinung malerisch behandelt. — Die
Nachtheile, welchen dieser ganze Zweig der modernen Malerei unterliegt, sind
schon im vorigen Kapitel berührt; im Ganzen sind und bleiben die Holländer
und Niederländer unerreichtes Borbild.

Andrerseits sucht der Maler nur die malerische Erscheinung über¬
haupt, welche leicht in die Anschauung eingeht und zur Phantasie spricht,
ohne das Interesse einer dem Menschen näher oder entfernter liegenden Ver¬
gangenheit hinzuzuziehen. Er sucht das Malerische, wo es sich allenfalls in
der Gegenwart noch findet: im Süden und im Orient. Noch immer müs¬
sen die schönen Menschen des italienischen Bodens herhalten; um so mehr,
als ein Ueberschuß von geistigem Leben von ihrem Aeußeren auf ein un¬
thätiges, aber fähiges, gleichsam schlummerndes Innere zurückweist und ihnen
die Tiefe des Malerischen gibt. Besonders aber ist der Orient bis zum Ueber¬
maß ausgebeutet worden. Der einfache noch unzersetzte und unzerrissene
Zusammenhang des Menschen mit der Natur, aus dem wol eine Seele spricht,
aber noch träumerisch versenkt in die stoffliche Welt, der Schein des glühen¬
den Lichts, in dem die Dinge wie verkocht sind, und die doch volle unge¬
brochene Farbe, die üppige und unverholene sinnliche Existenz: das Alles zog
die moderne Kunst um so mehr an. als sie emsig nach einem Stück ästheti¬
scher Wirklichkeit suchte und der unsrigen, die sie von tausend geistigen Be¬
zügen zersetzt fand, überdrüssig war. Da sich hier der Mensch aus der Natur
noch nicht in sich zurückgenommen hat, sondern gerade aus dem Leben mit
derselben seinen Charakter empfängt, so gehen in den meisten Fällen Genre
und Landschaft in einander über: man weiß nicht, ist der Mensch oder die
unbelebte Natur das eigentliche Motiv. Doch tritt die orientalische Land¬
schaft, die in ihren bedeutenden Leistungen schon der Vergangenheit angehört,
hier und da als selbständiger Zweig auf und vermittelt dann die realistische
mit der classischen; sie verbindet die Wahrheit der Erscheinung und das Ver¬
schwimmen der Natur in Licht und Luft mit den Formen einer mannigfaltigen
Erdbildung und einer reichen Komposition. Auch in dieser ganzen Gattung
treten wieder verschiedene Richtungen auf: Bald sucht der Maler mehr die be¬
stimmte farbenreiche Erscheinung, bald mehr das träumerische Wesen des
Orients und den Duft, der über dem Ganzen schwebt, wiederzugeben. Auch


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[0477] der Bestimmtheit der verschiedenen Stämme, seiner natürlichen Erscheinung und malerischen Sitte, in der jetzt allein noch ein Schein von freier, offner Freude, von naivem Sich-gehen-lassen ist. Dieses Genre ist wohl zu unterscheiden von dem des grundsätzlichen Realismus, dem es mit der Darstellung der Bauern¬ welt gewissermaßen Ernst ist, weil sie ihm als ein wichtiger und bedeutender Gegenstand der Kunst erscheint. Hieran schließt sich endlich das eigentliche Sittenbild aus der Gegenwart, das die gemüthliche Stille des Familienlebens der gebildeten Klassen in eleganter Erscheinung malerisch behandelt. — Die Nachtheile, welchen dieser ganze Zweig der modernen Malerei unterliegt, sind schon im vorigen Kapitel berührt; im Ganzen sind und bleiben die Holländer und Niederländer unerreichtes Borbild. Andrerseits sucht der Maler nur die malerische Erscheinung über¬ haupt, welche leicht in die Anschauung eingeht und zur Phantasie spricht, ohne das Interesse einer dem Menschen näher oder entfernter liegenden Ver¬ gangenheit hinzuzuziehen. Er sucht das Malerische, wo es sich allenfalls in der Gegenwart noch findet: im Süden und im Orient. Noch immer müs¬ sen die schönen Menschen des italienischen Bodens herhalten; um so mehr, als ein Ueberschuß von geistigem Leben von ihrem Aeußeren auf ein un¬ thätiges, aber fähiges, gleichsam schlummerndes Innere zurückweist und ihnen die Tiefe des Malerischen gibt. Besonders aber ist der Orient bis zum Ueber¬ maß ausgebeutet worden. Der einfache noch unzersetzte und unzerrissene Zusammenhang des Menschen mit der Natur, aus dem wol eine Seele spricht, aber noch träumerisch versenkt in die stoffliche Welt, der Schein des glühen¬ den Lichts, in dem die Dinge wie verkocht sind, und die doch volle unge¬ brochene Farbe, die üppige und unverholene sinnliche Existenz: das Alles zog die moderne Kunst um so mehr an. als sie emsig nach einem Stück ästheti¬ scher Wirklichkeit suchte und der unsrigen, die sie von tausend geistigen Be¬ zügen zersetzt fand, überdrüssig war. Da sich hier der Mensch aus der Natur noch nicht in sich zurückgenommen hat, sondern gerade aus dem Leben mit derselben seinen Charakter empfängt, so gehen in den meisten Fällen Genre und Landschaft in einander über: man weiß nicht, ist der Mensch oder die unbelebte Natur das eigentliche Motiv. Doch tritt die orientalische Land¬ schaft, die in ihren bedeutenden Leistungen schon der Vergangenheit angehört, hier und da als selbständiger Zweig auf und vermittelt dann die realistische mit der classischen; sie verbindet die Wahrheit der Erscheinung und das Ver¬ schwimmen der Natur in Licht und Luft mit den Formen einer mannigfaltigen Erdbildung und einer reichen Komposition. Auch in dieser ganzen Gattung treten wieder verschiedene Richtungen auf: Bald sucht der Maler mehr die be¬ stimmte farbenreiche Erscheinung, bald mehr das träumerische Wesen des Orients und den Duft, der über dem Ganzen schwebt, wiederzugeben. Auch 59 *

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/477>, abgerufen am 22.07.2024.