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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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schwebten eben jene Bilder und so ^ auch in der Seele des Malers. Es war
überhaupt die Zeit, da in der Phantasie Leben und Thätigkeit war. da sie
die Dinge mit gestaltenden Sinn anschaute, und so sah sie, auch wenn sie
der Mythe sich entschlug, überall Form und Farbe, ein ästhetisches Leben.
Und was der Künstler hervorbrachte, hatte ebenso seine ganze Seele erfüllt,
als es die Zeit bewegte, es erschien daher in kräftiger Bildung und in großen
Zügen, belebt von innen heraus, ganz vom menschlichen Geist durchdrungen
und doch wirksam wie eine gewaltige Natur: die Gestalt, die den Beschauer
mit sich "aus dem engen, dumpfen Leben in das Reich des Ideals" erhob.
Seine Empfindung brauchte deshalb mit der Mythe nicht verwachsen zu.sein,
ja bei den großen Meistern war der Blick vollkommen frei, von keinem Ge-
fühlsinteressc getrübt. Aber eben durch die Mythe war jene geweckt und un¬
endlich erregbar geworden.

Diese Welt der Phantasie ist in Trümmer gegangen, jene Gestalten sind
entseelt, und keine noch so fromme Empfindung vermag ihnen ein neues Leben
einzuhauchen. Sie waren nur. solange sie die allgemeine Stimmung in sich
und aus sich heraus bildete; von dieser nicht mehr getragen, sind sie für immer
zusammengesunken. Die 'Madonnen Raphael's und Tizian's üben zwar noch
dieselbe wunderbare Wirkung, wenn wir auch an die göttliche Mutter nicht
glauben; denn in der.Seele des Malers schwebte das Bild mit seiner ganzen
idealen Kraft, und so kam in die Erscheinung ein volles großes Leben, das
den Menschen überhaupt fesselt. Die Phantasie des modernen Künstlers ist
entleert, und so mag er das schönste Weib auf die Leinwand bringen, soll es
eine Madonna sein, so fehlt der Gestalt der beseelende Hauch. Der Beschauer
braucht das bestimmte Ideal nicht im Herzen zu tragen, um -die schöne Er¬
scheinung in sich aufzunehmen, wol aber der Maler, um sie zu schaffe".
Durch die Kunst wird das Heilige schön, aber damit es der Maler bilde, muß
^ in ihm irgendwie lebendig sein. Es ist ganz richtig, daß ein religiöser
Stoff, wie sich Goethe einmal ausdrückt, noch immer ein guter Gegenstand
tur die Kunst sein kann, wenn er^ nur allgemein menschlich ist; die Bilder
großen allen Meister, eine Grablegung Tizian's zum Beispiel, erscheinen
^Ü"r nicht selten wie allgemein menschliche Vorgänge, die unter großen, be¬
deutenden Individuen spielen. Aber damit der Maler das allgemein Mensch¬
te in diese Stoffe und Gestalten legte, mußte er von diesen noch irgendwie
^wege. erfüllt sein, mit ihnen, sei es auch nur durch die Vermittlung des
Zeitalters, ein inneres Verhältniß haben, sie mußten mock in der allgemeinen
Erstellung lebenskräftig sein. Wir dagegen haben das allgemein Menschliche
ganz anderen Stoffen und Formen zur Erscheinung zu bringen. Für die
Gegenwart ist die Mythe, die nur besteht, sofern sie geglaubt wird, nichts
^"ter als eine Lüge, und ihre Gestalten sind für den Maler ebenso entjeclte


schwebten eben jene Bilder und so ^ auch in der Seele des Malers. Es war
überhaupt die Zeit, da in der Phantasie Leben und Thätigkeit war. da sie
die Dinge mit gestaltenden Sinn anschaute, und so sah sie, auch wenn sie
der Mythe sich entschlug, überall Form und Farbe, ein ästhetisches Leben.
Und was der Künstler hervorbrachte, hatte ebenso seine ganze Seele erfüllt,
als es die Zeit bewegte, es erschien daher in kräftiger Bildung und in großen
Zügen, belebt von innen heraus, ganz vom menschlichen Geist durchdrungen
und doch wirksam wie eine gewaltige Natur: die Gestalt, die den Beschauer
mit sich „aus dem engen, dumpfen Leben in das Reich des Ideals" erhob.
Seine Empfindung brauchte deshalb mit der Mythe nicht verwachsen zu.sein,
ja bei den großen Meistern war der Blick vollkommen frei, von keinem Ge-
fühlsinteressc getrübt. Aber eben durch die Mythe war jene geweckt und un¬
endlich erregbar geworden.

Diese Welt der Phantasie ist in Trümmer gegangen, jene Gestalten sind
entseelt, und keine noch so fromme Empfindung vermag ihnen ein neues Leben
einzuhauchen. Sie waren nur. solange sie die allgemeine Stimmung in sich
und aus sich heraus bildete; von dieser nicht mehr getragen, sind sie für immer
zusammengesunken. Die 'Madonnen Raphael's und Tizian's üben zwar noch
dieselbe wunderbare Wirkung, wenn wir auch an die göttliche Mutter nicht
glauben; denn in der.Seele des Malers schwebte das Bild mit seiner ganzen
idealen Kraft, und so kam in die Erscheinung ein volles großes Leben, das
den Menschen überhaupt fesselt. Die Phantasie des modernen Künstlers ist
entleert, und so mag er das schönste Weib auf die Leinwand bringen, soll es
eine Madonna sein, so fehlt der Gestalt der beseelende Hauch. Der Beschauer
braucht das bestimmte Ideal nicht im Herzen zu tragen, um -die schöne Er¬
scheinung in sich aufzunehmen, wol aber der Maler, um sie zu schaffe».
Durch die Kunst wird das Heilige schön, aber damit es der Maler bilde, muß
^ in ihm irgendwie lebendig sein. Es ist ganz richtig, daß ein religiöser
Stoff, wie sich Goethe einmal ausdrückt, noch immer ein guter Gegenstand
tur die Kunst sein kann, wenn er^ nur allgemein menschlich ist; die Bilder
großen allen Meister, eine Grablegung Tizian's zum Beispiel, erscheinen
^Ü«r nicht selten wie allgemein menschliche Vorgänge, die unter großen, be¬
deutenden Individuen spielen. Aber damit der Maler das allgemein Mensch¬
te in diese Stoffe und Gestalten legte, mußte er von diesen noch irgendwie
^wege. erfüllt sein, mit ihnen, sei es auch nur durch die Vermittlung des
Zeitalters, ein inneres Verhältniß haben, sie mußten mock in der allgemeinen
Erstellung lebenskräftig sein. Wir dagegen haben das allgemein Menschliche
ganz anderen Stoffen und Formen zur Erscheinung zu bringen. Für die
Gegenwart ist die Mythe, die nur besteht, sofern sie geglaubt wird, nichts
^"ter als eine Lüge, und ihre Gestalten sind für den Maler ebenso entjeclte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/383>, abgerufen am 23.07.2024.