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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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Besonnenheit. Freilich ist auch in diesem culturgeschichtlichen Bilde Frankreich
ausschließlich berücksichtigt, doch wird dadurch auch die Zeichnung um so fester,
die Farbengebung um so lebhafter und frappanter. Wenn der Verfasser
von dem Ausdruck clrek 6'oeuvre für Racine's ze. Stücke nicht loskommt,
obgleich er die Schwäche des classischen französischen Theaters vollkommen er¬
kennt, so ist auch dies ein leicht zu übersehendes französisches Vorurtheil,
welches selbst seine Widerlegung überdauert, oder vielleicht auch nur eine
halbunwillkürliche Concession an die französische Empfänglichkeit. Das Ur¬
theil über Voltaire und seine Schule ist verurtheilend. aber wer sich mit diesem
Theile der Literaturgeschichte bekannt gemacht hat, wird hinzufügen: vollkommen
gerecht. In politischen Dingen zeigt sich der maaßvolle Conservativismus
eines Mannes, der die reine Demokratie und das allgemeine Stimmrecht mit
Energie bekämpft, ohne irgendwie die Mißbräuche des ancien reAmö zu
verkennen. Hier ließe sich eine Auswahl von Stellen mittheilen, die mit
Princip und Richtung der "Grenzboten" eine auffallende Uebereinstimmung be¬
kunden. Ich begnüge mich, eine andere Lehre mitzutheilen, die auch die "Grenz-
boten" oft genug gepredigt haben: der Schriftsteller soll arbeiten, nicht übereilt
hinsudeln. I^e talent est conos 1a rieliöSLö. Xous ne xonvons xas vers
tous r-ieoes; eng,is tous riekss se pauvres nous pcmvvns et rrous äevorrs
edi-s twrmetes Zeus. I>a xrodit6 en auteur e'est. Is Lom pu'ü met a
öls vtzuvrss, xrodit^ aoud Is wierd et 1a Zloire mz üoivent xas plus is clis-
pöllser que tons les trösors 6e ig. terre 1o äispörrseraient as 1'autrö.

^ulieu ein 1a nu et'un siöele ist wieder Roman, aber voll des reichsten
culturgeschichtlichen Stoffs. Wie das eben besprochene Buch vorzugsweise
Voltaire und seinen Einfluß aus die Literatur behandelt, so beschäftigt sich
das vorliegende mit Rousseau und seinem Einfluß auf sociale und politische
Verhältnisse, so wie mit dem Stand des religiösen Bewußtseins in der Zeit-
Julien, der Held des Romans, ein ausgesetzter Sohn Rousseau's, ist Ursprung'
lich Offizier und wird durch das Bedürfniß, die religiöse Leere seines Innern
auszufüllen, der Reihe nach Schüler von Rousseau, Se. Germain, Mesmer,
den Freimaurern, dann katholischer Priester und Jesuit, ohne Beruhigung zu
finden, bis ihm diese endlich aus der Bibel entgegenquillt. Gegen den eigens
liehen Roman ließe sich vielleicht Einiges einwenden. Manche Züge sind wohl
allzu romanhaft: so wenn Julien im Augenblick, wo er sich erschießen will,
Mariens Brief aus der Nousseauinsel findet, und wenn dann später wieder, als
er bei Stande in die Kirche dringt, gerade Cambel zur Hand ist und ihn nun
so a, xropos mit der blutigen Hostie überrascht. Aber das sind Kleinigkeiten,
die dnrch die seine psychologische Entwicklung, durch dramatische Gruppi""'"
und einen wahren Ueberfluß an Fülle und Reichthum des geschichtlichen Ma¬
terials weit überwogen werden. Vielleicht leidet der einfache Gang der ep>"


Besonnenheit. Freilich ist auch in diesem culturgeschichtlichen Bilde Frankreich
ausschließlich berücksichtigt, doch wird dadurch auch die Zeichnung um so fester,
die Farbengebung um so lebhafter und frappanter. Wenn der Verfasser
von dem Ausdruck clrek 6'oeuvre für Racine's ze. Stücke nicht loskommt,
obgleich er die Schwäche des classischen französischen Theaters vollkommen er¬
kennt, so ist auch dies ein leicht zu übersehendes französisches Vorurtheil,
welches selbst seine Widerlegung überdauert, oder vielleicht auch nur eine
halbunwillkürliche Concession an die französische Empfänglichkeit. Das Ur¬
theil über Voltaire und seine Schule ist verurtheilend. aber wer sich mit diesem
Theile der Literaturgeschichte bekannt gemacht hat, wird hinzufügen: vollkommen
gerecht. In politischen Dingen zeigt sich der maaßvolle Conservativismus
eines Mannes, der die reine Demokratie und das allgemeine Stimmrecht mit
Energie bekämpft, ohne irgendwie die Mißbräuche des ancien reAmö zu
verkennen. Hier ließe sich eine Auswahl von Stellen mittheilen, die mit
Princip und Richtung der „Grenzboten" eine auffallende Uebereinstimmung be¬
kunden. Ich begnüge mich, eine andere Lehre mitzutheilen, die auch die „Grenz-
boten" oft genug gepredigt haben: der Schriftsteller soll arbeiten, nicht übereilt
hinsudeln. I^e talent est conos 1a rieliöSLö. Xous ne xonvons xas vers
tous r-ieoes; eng,is tous riekss se pauvres nous pcmvvns et rrous äevorrs
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^ulieu ein 1a nu et'un siöele ist wieder Roman, aber voll des reichsten
culturgeschichtlichen Stoffs. Wie das eben besprochene Buch vorzugsweise
Voltaire und seinen Einfluß aus die Literatur behandelt, so beschäftigt sich
das vorliegende mit Rousseau und seinem Einfluß auf sociale und politische
Verhältnisse, so wie mit dem Stand des religiösen Bewußtseins in der Zeit-
Julien, der Held des Romans, ein ausgesetzter Sohn Rousseau's, ist Ursprung'
lich Offizier und wird durch das Bedürfniß, die religiöse Leere seines Innern
auszufüllen, der Reihe nach Schüler von Rousseau, Se. Germain, Mesmer,
den Freimaurern, dann katholischer Priester und Jesuit, ohne Beruhigung zu
finden, bis ihm diese endlich aus der Bibel entgegenquillt. Gegen den eigens
liehen Roman ließe sich vielleicht Einiges einwenden. Manche Züge sind wohl
allzu romanhaft: so wenn Julien im Augenblick, wo er sich erschießen will,
Mariens Brief aus der Nousseauinsel findet, und wenn dann später wieder, als
er bei Stande in die Kirche dringt, gerade Cambel zur Hand ist und ihn nun
so a, xropos mit der blutigen Hostie überrascht. Aber das sind Kleinigkeiten,
die dnrch die seine psychologische Entwicklung, durch dramatische Gruppi"»'«
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[0362] Besonnenheit. Freilich ist auch in diesem culturgeschichtlichen Bilde Frankreich ausschließlich berücksichtigt, doch wird dadurch auch die Zeichnung um so fester, die Farbengebung um so lebhafter und frappanter. Wenn der Verfasser von dem Ausdruck clrek 6'oeuvre für Racine's ze. Stücke nicht loskommt, obgleich er die Schwäche des classischen französischen Theaters vollkommen er¬ kennt, so ist auch dies ein leicht zu übersehendes französisches Vorurtheil, welches selbst seine Widerlegung überdauert, oder vielleicht auch nur eine halbunwillkürliche Concession an die französische Empfänglichkeit. Das Ur¬ theil über Voltaire und seine Schule ist verurtheilend. aber wer sich mit diesem Theile der Literaturgeschichte bekannt gemacht hat, wird hinzufügen: vollkommen gerecht. In politischen Dingen zeigt sich der maaßvolle Conservativismus eines Mannes, der die reine Demokratie und das allgemeine Stimmrecht mit Energie bekämpft, ohne irgendwie die Mißbräuche des ancien reAmö zu verkennen. Hier ließe sich eine Auswahl von Stellen mittheilen, die mit Princip und Richtung der „Grenzboten" eine auffallende Uebereinstimmung be¬ kunden. Ich begnüge mich, eine andere Lehre mitzutheilen, die auch die „Grenz- boten" oft genug gepredigt haben: der Schriftsteller soll arbeiten, nicht übereilt hinsudeln. I^e talent est conos 1a rieliöSLö. Xous ne xonvons xas vers tous r-ieoes; eng,is tous riekss se pauvres nous pcmvvns et rrous äevorrs edi-s twrmetes Zeus. I>a xrodit6 en auteur e'est. Is Lom pu'ü met a öls vtzuvrss, xrodit^ aoud Is wierd et 1a Zloire mz üoivent xas plus is clis- pöllser que tons les trösors 6e ig. terre 1o äispörrseraient as 1'autrö. ^ulieu ein 1a nu et'un siöele ist wieder Roman, aber voll des reichsten culturgeschichtlichen Stoffs. Wie das eben besprochene Buch vorzugsweise Voltaire und seinen Einfluß aus die Literatur behandelt, so beschäftigt sich das vorliegende mit Rousseau und seinem Einfluß auf sociale und politische Verhältnisse, so wie mit dem Stand des religiösen Bewußtseins in der Zeit- Julien, der Held des Romans, ein ausgesetzter Sohn Rousseau's, ist Ursprung' lich Offizier und wird durch das Bedürfniß, die religiöse Leere seines Innern auszufüllen, der Reihe nach Schüler von Rousseau, Se. Germain, Mesmer, den Freimaurern, dann katholischer Priester und Jesuit, ohne Beruhigung zu finden, bis ihm diese endlich aus der Bibel entgegenquillt. Gegen den eigens liehen Roman ließe sich vielleicht Einiges einwenden. Manche Züge sind wohl allzu romanhaft: so wenn Julien im Augenblick, wo er sich erschießen will, Mariens Brief aus der Nousseauinsel findet, und wenn dann später wieder, als er bei Stande in die Kirche dringt, gerade Cambel zur Hand ist und ihn nun so a, xropos mit der blutigen Hostie überrascht. Aber das sind Kleinigkeiten, die dnrch die seine psychologische Entwicklung, durch dramatische Gruppi"»'« und einen wahren Ueberfluß an Fülle und Reichthum des geschichtlichen Ma¬ terials weit überwogen werden. Vielleicht leidet der einfache Gang der ep>"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/362>, abgerufen am 22.07.2024.