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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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schnitten sind, werden ihr auch in der Regel bald in Sprache und Gesittung
fremd werden. Zwar tonnen wol scharf ausgeprägte Nationalitäten von ihrem
Mutterlande losgetrennt sich erhalten, doch nur dann, wenn sie entweder ein
Land neu bevölkern und seine ursprünglichen Einwohner verdrängen,, wie die
Amenkcmer die Rvthhüute, oder wenn die erobernde Race der einheimischen so über¬
legen ist, daß letztere nur als dienend erscheint, wie die Engländer in Indien;
beides beweist die Geschichte der europäischen Coloiusation.

Sind nun Sprache, Gesittung und Ansiedlung die wesentlichsten Binde¬
mittel einer Nation, so folgt aus der Nothwendigkeit ihrer Gemeinsamkeit
nicht ihre Einerleiheit. Im Gegentheil, je reicher die nationale Entwicklung
ist, desto mannigfaltiger wird aus dem gleichen Grunde das Leben erblühen,
die Sprache wird sich in Dialekte gliedern, Sitte, Recht und Cultus werden
von gleichen Hauptrichtungen ausgehend doch von einander den Umständen
nach abweichen, die Kontinuität des Gebietes wird hier und da unterbrochen
werden. Solche Mannigfaltigkeit in der Einheit wird nur belebend für das
gesunde Wachsthum der Nation wirken. Eine Nation ist ein historisch Ge¬
wordenes, sie ist daher keine Masse von Atomen, sondern ein Organismus
von Gliedern, die wir Stämme nennen. Die Geschichte des Zusammenwachsens
oder Auseinandergehens der Stämme ist recht eigentlich die Geschichte des
nationalen Lebens. Das Princip der Nationalität, das die Gegenwart so
lebhast bewegt, besagt nun, daß eine Volksgemeinschaft, welche sich in Sprache
Gesittung und Ansiedlung eins weiß, dazu berufen ist, auf dieser gemeinsamen
Grundlage sich zu einer staatlichen Organisation zu erbauen, welche der innern
Einheit auch den äußern Ausdruck andern Nationalitäten gegenüber gebe.
Fassen wir das Princip so, so beugen wir damit aller doctrinären Consequen-
zenmacherei vor: ein Volk muß sich eben in jenen wesentlichen Grundlagen
eins wissen, wenn es sich staatlich organisiren will, also muß das Nationali'
tätsprincip zur Unterdrückung oder zur Zerrüttung des Gemeinwesens führen,
wo diese Bedingungen nicht vorhanden sind. Wer an der Donau, in der
Türkei oder in Kleinasien, wo die Völkerschaften auf das Burleske durchein¬
ander gewürfelt sind, das Nationalitätsprincip durchführen wollte, würde ein
Chaos zu Wege bringen; wo der Proceß der Assimilation, von dem oben
die Rede war, noch nicht zu einer Ausgleichung gediehen ist, da fehlt eben
die Grundlage, und so lange er nach den innern Bedingungen fortdauern
muß, wird Niemand ihn zum Stehen bringen. Wenn die überwiegende Macht
des Nationalitätsprincips in der Gegenwart behauptet wird, so kann dies,
richtig aufgefaßt, nur so verstanden werden, daß unsre Zeit von dem Streben
bewegt wird, bei den Völkern, wo die Vorbedingungen schon erfüllt sind, d>e
anderweitigen Hindernisse nationaler Einigung zu beseitigen.'

Versuchen wir nun die gewonnenen Anschauungen auf Deutschland anz"


schnitten sind, werden ihr auch in der Regel bald in Sprache und Gesittung
fremd werden. Zwar tonnen wol scharf ausgeprägte Nationalitäten von ihrem
Mutterlande losgetrennt sich erhalten, doch nur dann, wenn sie entweder ein
Land neu bevölkern und seine ursprünglichen Einwohner verdrängen,, wie die
Amenkcmer die Rvthhüute, oder wenn die erobernde Race der einheimischen so über¬
legen ist, daß letztere nur als dienend erscheint, wie die Engländer in Indien;
beides beweist die Geschichte der europäischen Coloiusation.

Sind nun Sprache, Gesittung und Ansiedlung die wesentlichsten Binde¬
mittel einer Nation, so folgt aus der Nothwendigkeit ihrer Gemeinsamkeit
nicht ihre Einerleiheit. Im Gegentheil, je reicher die nationale Entwicklung
ist, desto mannigfaltiger wird aus dem gleichen Grunde das Leben erblühen,
die Sprache wird sich in Dialekte gliedern, Sitte, Recht und Cultus werden
von gleichen Hauptrichtungen ausgehend doch von einander den Umständen
nach abweichen, die Kontinuität des Gebietes wird hier und da unterbrochen
werden. Solche Mannigfaltigkeit in der Einheit wird nur belebend für das
gesunde Wachsthum der Nation wirken. Eine Nation ist ein historisch Ge¬
wordenes, sie ist daher keine Masse von Atomen, sondern ein Organismus
von Gliedern, die wir Stämme nennen. Die Geschichte des Zusammenwachsens
oder Auseinandergehens der Stämme ist recht eigentlich die Geschichte des
nationalen Lebens. Das Princip der Nationalität, das die Gegenwart so
lebhast bewegt, besagt nun, daß eine Volksgemeinschaft, welche sich in Sprache
Gesittung und Ansiedlung eins weiß, dazu berufen ist, auf dieser gemeinsamen
Grundlage sich zu einer staatlichen Organisation zu erbauen, welche der innern
Einheit auch den äußern Ausdruck andern Nationalitäten gegenüber gebe.
Fassen wir das Princip so, so beugen wir damit aller doctrinären Consequen-
zenmacherei vor: ein Volk muß sich eben in jenen wesentlichen Grundlagen
eins wissen, wenn es sich staatlich organisiren will, also muß das Nationali'
tätsprincip zur Unterdrückung oder zur Zerrüttung des Gemeinwesens führen,
wo diese Bedingungen nicht vorhanden sind. Wer an der Donau, in der
Türkei oder in Kleinasien, wo die Völkerschaften auf das Burleske durchein¬
ander gewürfelt sind, das Nationalitätsprincip durchführen wollte, würde ein
Chaos zu Wege bringen; wo der Proceß der Assimilation, von dem oben
die Rede war, noch nicht zu einer Ausgleichung gediehen ist, da fehlt eben
die Grundlage, und so lange er nach den innern Bedingungen fortdauern
muß, wird Niemand ihn zum Stehen bringen. Wenn die überwiegende Macht
des Nationalitätsprincips in der Gegenwart behauptet wird, so kann dies,
richtig aufgefaßt, nur so verstanden werden, daß unsre Zeit von dem Streben
bewegt wird, bei den Völkern, wo die Vorbedingungen schon erfüllt sind, d>e
anderweitigen Hindernisse nationaler Einigung zu beseitigen.'

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[0354] schnitten sind, werden ihr auch in der Regel bald in Sprache und Gesittung fremd werden. Zwar tonnen wol scharf ausgeprägte Nationalitäten von ihrem Mutterlande losgetrennt sich erhalten, doch nur dann, wenn sie entweder ein Land neu bevölkern und seine ursprünglichen Einwohner verdrängen,, wie die Amenkcmer die Rvthhüute, oder wenn die erobernde Race der einheimischen so über¬ legen ist, daß letztere nur als dienend erscheint, wie die Engländer in Indien; beides beweist die Geschichte der europäischen Coloiusation. Sind nun Sprache, Gesittung und Ansiedlung die wesentlichsten Binde¬ mittel einer Nation, so folgt aus der Nothwendigkeit ihrer Gemeinsamkeit nicht ihre Einerleiheit. Im Gegentheil, je reicher die nationale Entwicklung ist, desto mannigfaltiger wird aus dem gleichen Grunde das Leben erblühen, die Sprache wird sich in Dialekte gliedern, Sitte, Recht und Cultus werden von gleichen Hauptrichtungen ausgehend doch von einander den Umständen nach abweichen, die Kontinuität des Gebietes wird hier und da unterbrochen werden. Solche Mannigfaltigkeit in der Einheit wird nur belebend für das gesunde Wachsthum der Nation wirken. Eine Nation ist ein historisch Ge¬ wordenes, sie ist daher keine Masse von Atomen, sondern ein Organismus von Gliedern, die wir Stämme nennen. Die Geschichte des Zusammenwachsens oder Auseinandergehens der Stämme ist recht eigentlich die Geschichte des nationalen Lebens. Das Princip der Nationalität, das die Gegenwart so lebhast bewegt, besagt nun, daß eine Volksgemeinschaft, welche sich in Sprache Gesittung und Ansiedlung eins weiß, dazu berufen ist, auf dieser gemeinsamen Grundlage sich zu einer staatlichen Organisation zu erbauen, welche der innern Einheit auch den äußern Ausdruck andern Nationalitäten gegenüber gebe. Fassen wir das Princip so, so beugen wir damit aller doctrinären Consequen- zenmacherei vor: ein Volk muß sich eben in jenen wesentlichen Grundlagen eins wissen, wenn es sich staatlich organisiren will, also muß das Nationali' tätsprincip zur Unterdrückung oder zur Zerrüttung des Gemeinwesens führen, wo diese Bedingungen nicht vorhanden sind. Wer an der Donau, in der Türkei oder in Kleinasien, wo die Völkerschaften auf das Burleske durchein¬ ander gewürfelt sind, das Nationalitätsprincip durchführen wollte, würde ein Chaos zu Wege bringen; wo der Proceß der Assimilation, von dem oben die Rede war, noch nicht zu einer Ausgleichung gediehen ist, da fehlt eben die Grundlage, und so lange er nach den innern Bedingungen fortdauern muß, wird Niemand ihn zum Stehen bringen. Wenn die überwiegende Macht des Nationalitätsprincips in der Gegenwart behauptet wird, so kann dies, richtig aufgefaßt, nur so verstanden werden, daß unsre Zeit von dem Streben bewegt wird, bei den Völkern, wo die Vorbedingungen schon erfüllt sind, d>e anderweitigen Hindernisse nationaler Einigung zu beseitigen.' Versuchen wir nun die gewonnenen Anschauungen auf Deutschland anz»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/354>, abgerufen am 23.12.2024.