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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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So kam es denn, daß die innere religiöse Befriedigung, welche die neuen
Kirchengemeinschaften gerade den Ehrlichsten und geistig Begabtesten nicht bieten
konnten, von einer allmälig immer größer werdenden Anzahl der Ncuglüubigcn
neben, ja sogar außer ihnen gesucht wurde. Die Wirkungen der vorlutheri¬
schen Mystik eines Tauler, Suso, welche der orthodoxen Klerisei abhanden
gekommen, im Volke aber niemals ganz erloschen war. fingen um gegen Ende
des 16. Jahrhunderts deutlicher hervorzutreten. Schon bildete Straßburg
einen Mittelpunkt für diejenigen aus den westdeutschen Landen, welche von
dem starren gemüth- und geistlosen Dogmatis musabgestoßen inSchwenkfeldischcn
Anschauungen Ersatz suchten. Der Scbwcnkfeldische Liederdichter Daniel Suder¬
mann*), welcher um 27. April t594 Bicarius am Bruderhofe zu Straßburg
geworden war, gründete hier eine vorzügliche Bibliothek der alten Mystiker
und zog eine Anzahl Gleichgesinnter an sich. Namentlich aber das Vaterland
Schwenkfelds, Schlesien war es, wo die Mystik dem tauben Kirchenthume
gegenüber im Bürgerthum**) und Adel treue Pflege und Weiterbildung fand,
und wo endlich Jacob Böhme, der MIosoxIrus toutovieus, auf biblisch-mystischer
Grundlage so weit aus dem vulgären Dogmatismus heraustrat, daß er die
Grundgesetze der dialektischen Entwickelung***) umschrieb, und Kreise philo¬
sophischer Anschauungen entwickelte, die damals geeignet waren, auch das
spcculatwe Interesse der Bestbegabtesten-j-) anzuspannen und zu befriedigen.
Schon vor ihm aber war in dem Pfarrer zu Zschopcm im sächsischen Erz¬
gebirge, Valentin Weigel.'ein Mann aufgetreten, der in gleicher Weise die
Religion nicht in die formale Uebung äußerer Ceremonien setzte, sondern mit
den Mystikern in ein inneres Einswerden mit Gott, und dessen schriftstellerische
Wirksamkeit allmälig so bedeutend geworden war. daß seinen hohen Namen
alle diejenigen, deren Seelen von der herrschenden Orthodoxie noch nicht ganz
ausgokültet waren, also Amt, Andrea, Gerhard, als Parteinamen, aber frei-
lich auch mit Ehren trugen.^) Die große Fruchtbarkeit Weigels als Schrift-
steller. sein durchsichtiger populärer Stil gewannen ihm eine größere Anzahl
Anhänger, als wir heute berechnen können, wo uns höchstens die Namen der-
t'eiligen von seinen Anhängern noch bekannt sind, welche entweder als Schrift¬
steller oder durch ihre sonstige Lebensstellung besonders hervorragten. -- Allen
diesen Anhängern jener mystisch-theosophischen Richtung ist gemein, daß sie die







") Vgl: Zur Literatur der Schwenkfeldischen Liederdichter bis Daniel Sudermann von A.
H' F. Schneider. Programm der Königlichen Realschule zu Berlin. Berlin 1857. S. 11.
U"d flgde.
"
) So in Görlitz, vgl. Fechner, Jacob Böhme S. 69--65.
Fechner. a. a. O. S. 195--203.
5) Ueber seine Anhänger, vgl. Fechner S. 86--96; 210--220.
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1l) Tholuck: Glaubenszeugender lutherischen Kirche vor und während der Zelt de" drerß.g.
'Migen Krieges. Berlin 1859. S. 133-189.*
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So kam es denn, daß die innere religiöse Befriedigung, welche die neuen
Kirchengemeinschaften gerade den Ehrlichsten und geistig Begabtesten nicht bieten
konnten, von einer allmälig immer größer werdenden Anzahl der Ncuglüubigcn
neben, ja sogar außer ihnen gesucht wurde. Die Wirkungen der vorlutheri¬
schen Mystik eines Tauler, Suso, welche der orthodoxen Klerisei abhanden
gekommen, im Volke aber niemals ganz erloschen war. fingen um gegen Ende
des 16. Jahrhunderts deutlicher hervorzutreten. Schon bildete Straßburg
einen Mittelpunkt für diejenigen aus den westdeutschen Landen, welche von
dem starren gemüth- und geistlosen Dogmatis musabgestoßen inSchwenkfeldischcn
Anschauungen Ersatz suchten. Der Scbwcnkfeldische Liederdichter Daniel Suder¬
mann*), welcher um 27. April t594 Bicarius am Bruderhofe zu Straßburg
geworden war, gründete hier eine vorzügliche Bibliothek der alten Mystiker
und zog eine Anzahl Gleichgesinnter an sich. Namentlich aber das Vaterland
Schwenkfelds, Schlesien war es, wo die Mystik dem tauben Kirchenthume
gegenüber im Bürgerthum**) und Adel treue Pflege und Weiterbildung fand,
und wo endlich Jacob Böhme, der MIosoxIrus toutovieus, auf biblisch-mystischer
Grundlage so weit aus dem vulgären Dogmatismus heraustrat, daß er die
Grundgesetze der dialektischen Entwickelung***) umschrieb, und Kreise philo¬
sophischer Anschauungen entwickelte, die damals geeignet waren, auch das
spcculatwe Interesse der Bestbegabtesten-j-) anzuspannen und zu befriedigen.
Schon vor ihm aber war in dem Pfarrer zu Zschopcm im sächsischen Erz¬
gebirge, Valentin Weigel.'ein Mann aufgetreten, der in gleicher Weise die
Religion nicht in die formale Uebung äußerer Ceremonien setzte, sondern mit
den Mystikern in ein inneres Einswerden mit Gott, und dessen schriftstellerische
Wirksamkeit allmälig so bedeutend geworden war. daß seinen hohen Namen
alle diejenigen, deren Seelen von der herrschenden Orthodoxie noch nicht ganz
ausgokültet waren, also Amt, Andrea, Gerhard, als Parteinamen, aber frei-
lich auch mit Ehren trugen.^) Die große Fruchtbarkeit Weigels als Schrift-
steller. sein durchsichtiger populärer Stil gewannen ihm eine größere Anzahl
Anhänger, als wir heute berechnen können, wo uns höchstens die Namen der-
t'eiligen von seinen Anhängern noch bekannt sind, welche entweder als Schrift¬
steller oder durch ihre sonstige Lebensstellung besonders hervorragten. — Allen
diesen Anhängern jener mystisch-theosophischen Richtung ist gemein, daß sie die







") Vgl: Zur Literatur der Schwenkfeldischen Liederdichter bis Daniel Sudermann von A.
H' F. Schneider. Programm der Königlichen Realschule zu Berlin. Berlin 1857. S. 11.
U"d flgde.
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) So in Görlitz, vgl. Fechner, Jacob Böhme S. 69—65.
Fechner. a. a. O. S. 195—203.
5) Ueber seine Anhänger, vgl. Fechner S. 86—96; 210—220.
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1l) Tholuck: Glaubenszeugender lutherischen Kirche vor und während der Zelt de« drerß.g.
'Migen Krieges. Berlin 1859. S. 133-189.*
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[0293] So kam es denn, daß die innere religiöse Befriedigung, welche die neuen Kirchengemeinschaften gerade den Ehrlichsten und geistig Begabtesten nicht bieten konnten, von einer allmälig immer größer werdenden Anzahl der Ncuglüubigcn neben, ja sogar außer ihnen gesucht wurde. Die Wirkungen der vorlutheri¬ schen Mystik eines Tauler, Suso, welche der orthodoxen Klerisei abhanden gekommen, im Volke aber niemals ganz erloschen war. fingen um gegen Ende des 16. Jahrhunderts deutlicher hervorzutreten. Schon bildete Straßburg einen Mittelpunkt für diejenigen aus den westdeutschen Landen, welche von dem starren gemüth- und geistlosen Dogmatis musabgestoßen inSchwenkfeldischcn Anschauungen Ersatz suchten. Der Scbwcnkfeldische Liederdichter Daniel Suder¬ mann*), welcher um 27. April t594 Bicarius am Bruderhofe zu Straßburg geworden war, gründete hier eine vorzügliche Bibliothek der alten Mystiker und zog eine Anzahl Gleichgesinnter an sich. Namentlich aber das Vaterland Schwenkfelds, Schlesien war es, wo die Mystik dem tauben Kirchenthume gegenüber im Bürgerthum**) und Adel treue Pflege und Weiterbildung fand, und wo endlich Jacob Böhme, der MIosoxIrus toutovieus, auf biblisch-mystischer Grundlage so weit aus dem vulgären Dogmatismus heraustrat, daß er die Grundgesetze der dialektischen Entwickelung***) umschrieb, und Kreise philo¬ sophischer Anschauungen entwickelte, die damals geeignet waren, auch das spcculatwe Interesse der Bestbegabtesten-j-) anzuspannen und zu befriedigen. Schon vor ihm aber war in dem Pfarrer zu Zschopcm im sächsischen Erz¬ gebirge, Valentin Weigel.'ein Mann aufgetreten, der in gleicher Weise die Religion nicht in die formale Uebung äußerer Ceremonien setzte, sondern mit den Mystikern in ein inneres Einswerden mit Gott, und dessen schriftstellerische Wirksamkeit allmälig so bedeutend geworden war. daß seinen hohen Namen alle diejenigen, deren Seelen von der herrschenden Orthodoxie noch nicht ganz ausgokültet waren, also Amt, Andrea, Gerhard, als Parteinamen, aber frei- lich auch mit Ehren trugen.^) Die große Fruchtbarkeit Weigels als Schrift- steller. sein durchsichtiger populärer Stil gewannen ihm eine größere Anzahl Anhänger, als wir heute berechnen können, wo uns höchstens die Namen der- t'eiligen von seinen Anhängern noch bekannt sind, welche entweder als Schrift¬ steller oder durch ihre sonstige Lebensstellung besonders hervorragten. — Allen diesen Anhängern jener mystisch-theosophischen Richtung ist gemein, daß sie die ") Vgl: Zur Literatur der Schwenkfeldischen Liederdichter bis Daniel Sudermann von A. H' F. Schneider. Programm der Königlichen Realschule zu Berlin. Berlin 1857. S. 11. U"d flgde. " ) So in Görlitz, vgl. Fechner, Jacob Böhme S. 69—65. Fechner. a. a. O. S. 195—203. 5) Ueber seine Anhänger, vgl. Fechner S. 86—96; 210—220. " 1l) Tholuck: Glaubenszeugender lutherischen Kirche vor und während der Zelt de« drerß.g. 'Migen Krieges. Berlin 1859. S. 133-189.* 36

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/293>, abgerufen am 22.07.2024.