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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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der Genuß ist für uns noch immer der Cavalier mit dem Pferdefuß und wir
das Gretchen, das vor dem Menschen "ein heimlich Grauen hat", denn er
hat noch immer ein mehr oder minder "widrig Gesicht." Glücklicherweise ist
es überhaupt unsere Sache nicht, der Ausschweifung durch das Spiel des
Witzes und die seine Hülle des guten Tons eine gefällige Erscheinung zu geben,
die Sitte, auch die Unsitte in das Reich der Kunst zu erheben und durch eine
weiche, vollendete Bequemlichkeit den Ernst des Lebens abzustumpfen. Ein
bischen mehr Manier und Leichtigkeit im Verkehr, etwas weniger Schwer¬
fälligkeit im äußern Dasein würde uns freilich auch nicht schaden. Aber wir
gerathen nicht einmal in Versuchung. Uns den Prunk und die Genüsse, die
dem Franzosen von selbst in's Haus fallen, zu verschaffen, bedürfte es einer
förmlichen Anstrengung: damit würde das Mittel zum ausdrücklichen Zweck
und der eigentliche Reiz von der Sache ginge verloren.

Was der verfeinerten Lebensweise in Frankreich eine bedenkliche Ausdeh¬
nung gibt, ist eben die leise, leichte Art. mit der sie sich spielend, anziehend,
entgegenkommend nach allen Seiten unmerklich ausbreitet; sie legt sich wie
ein feines Gewand aus Sinn und Geist, und während sie dem Körper sich an¬
schmiegt, modelt sie ihn allmälig nach ihrem Schnitt. Die Franzosen wissen
Allem, auch dem Laster eine zierliche, ansprechende Form zu geben. Es fällt
Einem nicht ein, hinter den lächelnden Zügen den Schelm zu suchen, und in¬
dem das ganze Leben durch alle seine Kreise hindurch in derselben heitern
spielenden Weise sich ausprägt, treibt die Nation sich selber wie im Wirbel
über die Grenze des Erlaubten hinaus. Dazu kommt der fest ausgeprägte,
durchweg gleichmäßige Ton des gesellschaftlichen Umgangs, der in seiner Art
vortrefflich ist: spielend, witzig, geistreich, immer urbar schleift er den Menschen
die verletzenden Ecken ab. nimmt den Dingen ihren unbequemen Ernst. Man
^ag immerhin das heutige Frankreich mit dem kaiserlichen Rom vergleichen;
"der seine Ausschweifungen haben nichts von der brutalen und mürrischen
Art. welche die Lasterhaftigkeit der römischen Großen, eines Tigellinus und
Konsorten auszeichnet. Die scharfe Geißel eine Juvenal fände hier keinen
Stoff, den sie treffen könnte, an dem glatten Körper würden die Hiebe wir¬
kungslos abgleiten.

Auch wäre die Sache nicht so schlimm; denn noch immer ist die Rein¬
heit des Familienlebens im Ganzen unangetastet, tüchtige Frauen und Mütter
^idem sich wie bisher in der Stille des häuslichen Kreises, die Männer retten
l'es nach einer wild durchschwärmten Jugend meistens in den sichern Hafen des
Amtes oder Geschäfts und widerstehen nun um so leichter den verlockenden
^fahren des draußen tobenden Treibens. Den geordneten Verhältnissen gibt
dann die geräuschlose Behaglichkeit der Existenz, die verfeinerte Gesittung
um so größeren Reiz. Dabei braucht das Gemüth nicht mit sich in


der Genuß ist für uns noch immer der Cavalier mit dem Pferdefuß und wir
das Gretchen, das vor dem Menschen „ein heimlich Grauen hat", denn er
hat noch immer ein mehr oder minder „widrig Gesicht." Glücklicherweise ist
es überhaupt unsere Sache nicht, der Ausschweifung durch das Spiel des
Witzes und die seine Hülle des guten Tons eine gefällige Erscheinung zu geben,
die Sitte, auch die Unsitte in das Reich der Kunst zu erheben und durch eine
weiche, vollendete Bequemlichkeit den Ernst des Lebens abzustumpfen. Ein
bischen mehr Manier und Leichtigkeit im Verkehr, etwas weniger Schwer¬
fälligkeit im äußern Dasein würde uns freilich auch nicht schaden. Aber wir
gerathen nicht einmal in Versuchung. Uns den Prunk und die Genüsse, die
dem Franzosen von selbst in's Haus fallen, zu verschaffen, bedürfte es einer
förmlichen Anstrengung: damit würde das Mittel zum ausdrücklichen Zweck
und der eigentliche Reiz von der Sache ginge verloren.

Was der verfeinerten Lebensweise in Frankreich eine bedenkliche Ausdeh¬
nung gibt, ist eben die leise, leichte Art. mit der sie sich spielend, anziehend,
entgegenkommend nach allen Seiten unmerklich ausbreitet; sie legt sich wie
ein feines Gewand aus Sinn und Geist, und während sie dem Körper sich an¬
schmiegt, modelt sie ihn allmälig nach ihrem Schnitt. Die Franzosen wissen
Allem, auch dem Laster eine zierliche, ansprechende Form zu geben. Es fällt
Einem nicht ein, hinter den lächelnden Zügen den Schelm zu suchen, und in¬
dem das ganze Leben durch alle seine Kreise hindurch in derselben heitern
spielenden Weise sich ausprägt, treibt die Nation sich selber wie im Wirbel
über die Grenze des Erlaubten hinaus. Dazu kommt der fest ausgeprägte,
durchweg gleichmäßige Ton des gesellschaftlichen Umgangs, der in seiner Art
vortrefflich ist: spielend, witzig, geistreich, immer urbar schleift er den Menschen
die verletzenden Ecken ab. nimmt den Dingen ihren unbequemen Ernst. Man
^ag immerhin das heutige Frankreich mit dem kaiserlichen Rom vergleichen;
"der seine Ausschweifungen haben nichts von der brutalen und mürrischen
Art. welche die Lasterhaftigkeit der römischen Großen, eines Tigellinus und
Konsorten auszeichnet. Die scharfe Geißel eine Juvenal fände hier keinen
Stoff, den sie treffen könnte, an dem glatten Körper würden die Hiebe wir¬
kungslos abgleiten.

Auch wäre die Sache nicht so schlimm; denn noch immer ist die Rein¬
heit des Familienlebens im Ganzen unangetastet, tüchtige Frauen und Mütter
^idem sich wie bisher in der Stille des häuslichen Kreises, die Männer retten
l'es nach einer wild durchschwärmten Jugend meistens in den sichern Hafen des
Amtes oder Geschäfts und widerstehen nun um so leichter den verlockenden
^fahren des draußen tobenden Treibens. Den geordneten Verhältnissen gibt
dann die geräuschlose Behaglichkeit der Existenz, die verfeinerte Gesittung
um so größeren Reiz. Dabei braucht das Gemüth nicht mit sich in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/225>, abgerufen am 23.12.2024.