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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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Zusammenbang der gesammten nationalen Entwickelung vollkommen verständ¬
lich wäre, sie mühte aber zugleich ermuthigend und spornend wirken auf alle
Bestrebungen, welche auch in andern Völkern nach einem verwandten Ziele
gerichtet sind, wol auch warnend und blinde Ungeduld zügelnd. strafend aber
die Unthätigkeit und unmännliche Verzweiflung, Wird uns die lange bis zum
13. Jahrhundert zurückgehende Reihe italienischer Patrioten vorübergeführt,
welche in Lied und Wort die Hoffnungen Italiens geweckt, gepflegt und ge¬
fördert haben, theils mit kühnem Seherwort der Entwickelung von Jahrhun¬
derten vorgreifend, theils in Zeiten trübster Erschlaffung die Weckstimme er¬
hebend, und bald in elegischer Klage, bald mit den Waffen bitterster Satire
die moralischen Kräfte der Nation aufstachelnd, so würde uns an einem glän¬
zenden Beispiel die Macht der sittlichen Idee offenbar, welche stärker ist als
Jahrhunderte festgewurzelter Uebelstände, die Macht der sittlichen Freiheit, welche
unter der Pflege begeisterter Priester, die Kerker und Verbannung nicht
achten, auch über den verwildertsten Despotismus endlich siegreich das Haupt
erhebt. Eine solche Geschichtschreibung hätte wol lange trostlose Zeiten der
Ermüdung und Entartung zu verzeichnen, in welchen ebenso das Volk den
Priestern, als die Priester dem Volke fehlten, dennoch könnte nur sie zu einem
unparteiischen Gesammturtheile über die italienische Literatur führen. Denn
wie viel auch das Reimgeklingel der Petrarchistcn verschuldet hat an der Ein¬
schläferung des Nationalgefühls und der Erschlaffung des Volkscharakters, so
hat in späterer Zeit die schöne Literatur ihre Schuld vollständig ausgeglichen
und seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts würde kaum ein bedeutender
Schriftsteller der Halbinsel mehr zu verzeichnen sein, dessen Wirksamkeit nicht
engsten Zusammenhang mit dem Gang der öffentlichen Ereignisse stände:
zum Theil waren eben sie es. welche die Leitung der nationalen Angelegen¬
heiten, wo ihnen ein freier Aufschwung vergönnt wurde, in die Hand nahmen.
Endlich aber müßte diese Geschichte alle diejenigen beschämen, welche in der
vorwiegenden Pflege, die ein Volk der schönen Literatur angedeihen läßt, von
vornherein ein Hinderniß der nationalen Entwickelung sehen. Italien lehrt
uns vielmehr, daß ein Volk, welches nationale Dichter hervorbringt, nicht
verloren ist. Die kühne That des Kriegers und das feine Spiel des Diplo¬
maten kann erst dann beginnen und mit Erfolg wirken, wenn hinter ihnen
eine innerlich vorbereitete, sittlich geweckte Nation steht, in welcher die Idee
Macht gewonnen hat. bevor sie zur Verwirklichung reif geworden ist.

Es soll dem anerkannten Werthe der Geschichte des neueren Italiens von
Hermann Reuchlin kein Abbruch geschehen, wenn wir es aussprechen, daß ge¬
rade diese Seite der italienischen Bestrebungen, nämlich ihre Widerspiegelung
und Vorbereitung in der Literatur, eine größere Berücksichtigung verdient hätte.
Diese Geschichtsdarstellung, welche zu so gelegener Zeit an die Oeffentlichkeit


Grenzboten III. 1861. . 19

Zusammenbang der gesammten nationalen Entwickelung vollkommen verständ¬
lich wäre, sie mühte aber zugleich ermuthigend und spornend wirken auf alle
Bestrebungen, welche auch in andern Völkern nach einem verwandten Ziele
gerichtet sind, wol auch warnend und blinde Ungeduld zügelnd. strafend aber
die Unthätigkeit und unmännliche Verzweiflung, Wird uns die lange bis zum
13. Jahrhundert zurückgehende Reihe italienischer Patrioten vorübergeführt,
welche in Lied und Wort die Hoffnungen Italiens geweckt, gepflegt und ge¬
fördert haben, theils mit kühnem Seherwort der Entwickelung von Jahrhun¬
derten vorgreifend, theils in Zeiten trübster Erschlaffung die Weckstimme er¬
hebend, und bald in elegischer Klage, bald mit den Waffen bitterster Satire
die moralischen Kräfte der Nation aufstachelnd, so würde uns an einem glän¬
zenden Beispiel die Macht der sittlichen Idee offenbar, welche stärker ist als
Jahrhunderte festgewurzelter Uebelstände, die Macht der sittlichen Freiheit, welche
unter der Pflege begeisterter Priester, die Kerker und Verbannung nicht
achten, auch über den verwildertsten Despotismus endlich siegreich das Haupt
erhebt. Eine solche Geschichtschreibung hätte wol lange trostlose Zeiten der
Ermüdung und Entartung zu verzeichnen, in welchen ebenso das Volk den
Priestern, als die Priester dem Volke fehlten, dennoch könnte nur sie zu einem
unparteiischen Gesammturtheile über die italienische Literatur führen. Denn
wie viel auch das Reimgeklingel der Petrarchistcn verschuldet hat an der Ein¬
schläferung des Nationalgefühls und der Erschlaffung des Volkscharakters, so
hat in späterer Zeit die schöne Literatur ihre Schuld vollständig ausgeglichen
und seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts würde kaum ein bedeutender
Schriftsteller der Halbinsel mehr zu verzeichnen sein, dessen Wirksamkeit nicht
engsten Zusammenhang mit dem Gang der öffentlichen Ereignisse stände:
zum Theil waren eben sie es. welche die Leitung der nationalen Angelegen¬
heiten, wo ihnen ein freier Aufschwung vergönnt wurde, in die Hand nahmen.
Endlich aber müßte diese Geschichte alle diejenigen beschämen, welche in der
vorwiegenden Pflege, die ein Volk der schönen Literatur angedeihen läßt, von
vornherein ein Hinderniß der nationalen Entwickelung sehen. Italien lehrt
uns vielmehr, daß ein Volk, welches nationale Dichter hervorbringt, nicht
verloren ist. Die kühne That des Kriegers und das feine Spiel des Diplo¬
maten kann erst dann beginnen und mit Erfolg wirken, wenn hinter ihnen
eine innerlich vorbereitete, sittlich geweckte Nation steht, in welcher die Idee
Macht gewonnen hat. bevor sie zur Verwirklichung reif geworden ist.

Es soll dem anerkannten Werthe der Geschichte des neueren Italiens von
Hermann Reuchlin kein Abbruch geschehen, wenn wir es aussprechen, daß ge¬
rade diese Seite der italienischen Bestrebungen, nämlich ihre Widerspiegelung
und Vorbereitung in der Literatur, eine größere Berücksichtigung verdient hätte.
Diese Geschichtsdarstellung, welche zu so gelegener Zeit an die Oeffentlichkeit


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[0155] Zusammenbang der gesammten nationalen Entwickelung vollkommen verständ¬ lich wäre, sie mühte aber zugleich ermuthigend und spornend wirken auf alle Bestrebungen, welche auch in andern Völkern nach einem verwandten Ziele gerichtet sind, wol auch warnend und blinde Ungeduld zügelnd. strafend aber die Unthätigkeit und unmännliche Verzweiflung, Wird uns die lange bis zum 13. Jahrhundert zurückgehende Reihe italienischer Patrioten vorübergeführt, welche in Lied und Wort die Hoffnungen Italiens geweckt, gepflegt und ge¬ fördert haben, theils mit kühnem Seherwort der Entwickelung von Jahrhun¬ derten vorgreifend, theils in Zeiten trübster Erschlaffung die Weckstimme er¬ hebend, und bald in elegischer Klage, bald mit den Waffen bitterster Satire die moralischen Kräfte der Nation aufstachelnd, so würde uns an einem glän¬ zenden Beispiel die Macht der sittlichen Idee offenbar, welche stärker ist als Jahrhunderte festgewurzelter Uebelstände, die Macht der sittlichen Freiheit, welche unter der Pflege begeisterter Priester, die Kerker und Verbannung nicht achten, auch über den verwildertsten Despotismus endlich siegreich das Haupt erhebt. Eine solche Geschichtschreibung hätte wol lange trostlose Zeiten der Ermüdung und Entartung zu verzeichnen, in welchen ebenso das Volk den Priestern, als die Priester dem Volke fehlten, dennoch könnte nur sie zu einem unparteiischen Gesammturtheile über die italienische Literatur führen. Denn wie viel auch das Reimgeklingel der Petrarchistcn verschuldet hat an der Ein¬ schläferung des Nationalgefühls und der Erschlaffung des Volkscharakters, so hat in späterer Zeit die schöne Literatur ihre Schuld vollständig ausgeglichen und seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts würde kaum ein bedeutender Schriftsteller der Halbinsel mehr zu verzeichnen sein, dessen Wirksamkeit nicht engsten Zusammenhang mit dem Gang der öffentlichen Ereignisse stände: zum Theil waren eben sie es. welche die Leitung der nationalen Angelegen¬ heiten, wo ihnen ein freier Aufschwung vergönnt wurde, in die Hand nahmen. Endlich aber müßte diese Geschichte alle diejenigen beschämen, welche in der vorwiegenden Pflege, die ein Volk der schönen Literatur angedeihen läßt, von vornherein ein Hinderniß der nationalen Entwickelung sehen. Italien lehrt uns vielmehr, daß ein Volk, welches nationale Dichter hervorbringt, nicht verloren ist. Die kühne That des Kriegers und das feine Spiel des Diplo¬ maten kann erst dann beginnen und mit Erfolg wirken, wenn hinter ihnen eine innerlich vorbereitete, sittlich geweckte Nation steht, in welcher die Idee Macht gewonnen hat. bevor sie zur Verwirklichung reif geworden ist. Es soll dem anerkannten Werthe der Geschichte des neueren Italiens von Hermann Reuchlin kein Abbruch geschehen, wenn wir es aussprechen, daß ge¬ rade diese Seite der italienischen Bestrebungen, nämlich ihre Widerspiegelung und Vorbereitung in der Literatur, eine größere Berücksichtigung verdient hätte. Diese Geschichtsdarstellung, welche zu so gelegener Zeit an die Oeffentlichkeit Grenzboten III. 1861. . 19

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/155>, abgerufen am 22.07.2024.