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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band.

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erreichen sie einen doppelten Vortheil: die Stadt erhält ein zugleich charak¬
teristisches und harmonisches Ansehen, während andrerseits durch die Gewohn¬
heit der Uebung eine freiere und lebendigere Behandlung, wenigstens im Detail,
von selbst sich einstellt. Manche deutsche Stadt sieht aus wie eine Gallerte
von Bauwerken der verschiedensten Style; wie der Wandrer in den Gemälde¬
sälen mit einem Schritt aus der einen Schule in die andere geräth, so macht
der Spaziergänger binnen einer halben Stunde alle Baustyle der Welt durch,
vom dorischen Tempel bis zum gewundenen, verschnörkelten, verzipfelten Lust'
schloß der Zopfzeit. Er kommt zwischen den fremden steinernen Gästen nicht
zur Besinnung, und diese selbst, aus ihrem Himmelsstrich, ihrer natürlichen
Umgebung, ihrer Zeit auf den ungewohnten Boden versetzt, können mit einan¬
der, mit der neuen Heimath nicht vertraut werden, können dem Beschauer nichts
sagen. Wie sollten diese Formen alle zusammen in's Bewußtsein des Vol¬
kes, dem Künstler in Fleisch und Blut übergel/en? Gewiß ist diese univer¬
selle Mannigfaltigkeit, welche die eigenthümlichen Schöpfungen vergangener
Perioden mit klarem und richtigem Verständniß wiederzugeben weiß, ein
Vorzug. Aber einerseits nimmt man, über den ästhetischen Werth der ver¬
schiedenen Baustyle uneinig, Mancherlei aus, was besser den Lehrbüchern
überlassen bliebe, beachtet nicht die klimatischen Verhältnisse, nicht die Bezie¬
hung der künstlerischen Form auf den praktischen Zweck, da doch jene auch
diesen gewissermaßen zum Ausdruck bringen soll; und andrerseits bringt diese
Anhäufung der verschiedensten Bauarten jene Verwirrung und Unentschiedenheit
des Geschmackes hervor, die vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht, nicht
weiß, wohin sie sich wenden soll und in einer bunten Mischung die neue Form
sucht. Möglich, daß mit der Zeit einmal unter günstigen Verhältnissen aus
der durch die Arbeit der Bildung vollzogenen Vereinigung der verschiedenen
Baustyle ein neuer hervorgeht: für jetzt hat das Nebeneinander von Monu¬
menten aus allen möglichen Zeitaltern keine andere Bedeutung, als die je¬
der geschichtlichen Sammlung.

Man mag nun den Renaissanccstyl in der Architektur für eigenthümlich,
selbständig und durchgebildet gelten lassen oder nicht: für unsere modernen
Zwecke und Bedürfnisse, für unsere ganze Lebensweise ist er gewiß der allein
geeignete. Elastischer als jeder andere, hat er vor Allem dies voraus, daß er
-- für die Kirchenarchitektur weniger günstig -- besonders für den Profan-
und Privatbau passend ist. Freilich wird unsere Zeit keine florentinische".
venetianischen und veroneser Paläste aufführen, und in seiner Reinheit, in
welcher das schöne Maaß der Verhältnisse und die künstlerische Feinheit der
Ornamente das bloß decorative Element überwiegen, wird der Styl, bloße
Wiederholungen natürlich abgerechnet, überhaupt nicht mehr vorkommen. Der
reine Hauch der lebendigen, ästhetisch ganz durchgebildeten Phantasie, der w>e


erreichen sie einen doppelten Vortheil: die Stadt erhält ein zugleich charak¬
teristisches und harmonisches Ansehen, während andrerseits durch die Gewohn¬
heit der Uebung eine freiere und lebendigere Behandlung, wenigstens im Detail,
von selbst sich einstellt. Manche deutsche Stadt sieht aus wie eine Gallerte
von Bauwerken der verschiedensten Style; wie der Wandrer in den Gemälde¬
sälen mit einem Schritt aus der einen Schule in die andere geräth, so macht
der Spaziergänger binnen einer halben Stunde alle Baustyle der Welt durch,
vom dorischen Tempel bis zum gewundenen, verschnörkelten, verzipfelten Lust'
schloß der Zopfzeit. Er kommt zwischen den fremden steinernen Gästen nicht
zur Besinnung, und diese selbst, aus ihrem Himmelsstrich, ihrer natürlichen
Umgebung, ihrer Zeit auf den ungewohnten Boden versetzt, können mit einan¬
der, mit der neuen Heimath nicht vertraut werden, können dem Beschauer nichts
sagen. Wie sollten diese Formen alle zusammen in's Bewußtsein des Vol¬
kes, dem Künstler in Fleisch und Blut übergel/en? Gewiß ist diese univer¬
selle Mannigfaltigkeit, welche die eigenthümlichen Schöpfungen vergangener
Perioden mit klarem und richtigem Verständniß wiederzugeben weiß, ein
Vorzug. Aber einerseits nimmt man, über den ästhetischen Werth der ver¬
schiedenen Baustyle uneinig, Mancherlei aus, was besser den Lehrbüchern
überlassen bliebe, beachtet nicht die klimatischen Verhältnisse, nicht die Bezie¬
hung der künstlerischen Form auf den praktischen Zweck, da doch jene auch
diesen gewissermaßen zum Ausdruck bringen soll; und andrerseits bringt diese
Anhäufung der verschiedensten Bauarten jene Verwirrung und Unentschiedenheit
des Geschmackes hervor, die vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht, nicht
weiß, wohin sie sich wenden soll und in einer bunten Mischung die neue Form
sucht. Möglich, daß mit der Zeit einmal unter günstigen Verhältnissen aus
der durch die Arbeit der Bildung vollzogenen Vereinigung der verschiedenen
Baustyle ein neuer hervorgeht: für jetzt hat das Nebeneinander von Monu¬
menten aus allen möglichen Zeitaltern keine andere Bedeutung, als die je¬
der geschichtlichen Sammlung.

Man mag nun den Renaissanccstyl in der Architektur für eigenthümlich,
selbständig und durchgebildet gelten lassen oder nicht: für unsere modernen
Zwecke und Bedürfnisse, für unsere ganze Lebensweise ist er gewiß der allein
geeignete. Elastischer als jeder andere, hat er vor Allem dies voraus, daß er
— für die Kirchenarchitektur weniger günstig — besonders für den Profan-
und Privatbau passend ist. Freilich wird unsere Zeit keine florentinische».
venetianischen und veroneser Paläste aufführen, und in seiner Reinheit, in
welcher das schöne Maaß der Verhältnisse und die künstlerische Feinheit der
Ornamente das bloß decorative Element überwiegen, wird der Styl, bloße
Wiederholungen natürlich abgerechnet, überhaupt nicht mehr vorkommen. Der
reine Hauch der lebendigen, ästhetisch ganz durchgebildeten Phantasie, der w>e


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[0146] erreichen sie einen doppelten Vortheil: die Stadt erhält ein zugleich charak¬ teristisches und harmonisches Ansehen, während andrerseits durch die Gewohn¬ heit der Uebung eine freiere und lebendigere Behandlung, wenigstens im Detail, von selbst sich einstellt. Manche deutsche Stadt sieht aus wie eine Gallerte von Bauwerken der verschiedensten Style; wie der Wandrer in den Gemälde¬ sälen mit einem Schritt aus der einen Schule in die andere geräth, so macht der Spaziergänger binnen einer halben Stunde alle Baustyle der Welt durch, vom dorischen Tempel bis zum gewundenen, verschnörkelten, verzipfelten Lust' schloß der Zopfzeit. Er kommt zwischen den fremden steinernen Gästen nicht zur Besinnung, und diese selbst, aus ihrem Himmelsstrich, ihrer natürlichen Umgebung, ihrer Zeit auf den ungewohnten Boden versetzt, können mit einan¬ der, mit der neuen Heimath nicht vertraut werden, können dem Beschauer nichts sagen. Wie sollten diese Formen alle zusammen in's Bewußtsein des Vol¬ kes, dem Künstler in Fleisch und Blut übergel/en? Gewiß ist diese univer¬ selle Mannigfaltigkeit, welche die eigenthümlichen Schöpfungen vergangener Perioden mit klarem und richtigem Verständniß wiederzugeben weiß, ein Vorzug. Aber einerseits nimmt man, über den ästhetischen Werth der ver¬ schiedenen Baustyle uneinig, Mancherlei aus, was besser den Lehrbüchern überlassen bliebe, beachtet nicht die klimatischen Verhältnisse, nicht die Bezie¬ hung der künstlerischen Form auf den praktischen Zweck, da doch jene auch diesen gewissermaßen zum Ausdruck bringen soll; und andrerseits bringt diese Anhäufung der verschiedensten Bauarten jene Verwirrung und Unentschiedenheit des Geschmackes hervor, die vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht, nicht weiß, wohin sie sich wenden soll und in einer bunten Mischung die neue Form sucht. Möglich, daß mit der Zeit einmal unter günstigen Verhältnissen aus der durch die Arbeit der Bildung vollzogenen Vereinigung der verschiedenen Baustyle ein neuer hervorgeht: für jetzt hat das Nebeneinander von Monu¬ menten aus allen möglichen Zeitaltern keine andere Bedeutung, als die je¬ der geschichtlichen Sammlung. Man mag nun den Renaissanccstyl in der Architektur für eigenthümlich, selbständig und durchgebildet gelten lassen oder nicht: für unsere modernen Zwecke und Bedürfnisse, für unsere ganze Lebensweise ist er gewiß der allein geeignete. Elastischer als jeder andere, hat er vor Allem dies voraus, daß er — für die Kirchenarchitektur weniger günstig — besonders für den Profan- und Privatbau passend ist. Freilich wird unsere Zeit keine florentinische». venetianischen und veroneser Paläste aufführen, und in seiner Reinheit, in welcher das schöne Maaß der Verhältnisse und die künstlerische Feinheit der Ornamente das bloß decorative Element überwiegen, wird der Styl, bloße Wiederholungen natürlich abgerechnet, überhaupt nicht mehr vorkommen. Der reine Hauch der lebendigen, ästhetisch ganz durchgebildeten Phantasie, der w>e

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111969/146>, abgerufen am 03.07.2024.