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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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Und daher auch in der Darstellung: da sich in der Gestalt selber, was sie
bewegt und erfüllt, nicht genügend ausdrückt, so führt sie ein Scheinleben, sie
wirkt unruhig, unzusammenhängend, wie wenn sie den Schwerpunkt ihres Da¬
seins nicht in sich, sondern außer sich hätte. Daher endlich ist auch die Be¬
ziehung der Gestalten zueinander ohne Leben; sie kommt nicht von innen her¬
aus, schlägt nicht von Herz zu Herz, ist kein Sich-Neigen von Seele zu Seele.
Nirgends aber ist ein Zug von der anschaulichen Wahrheit und der Behaglich¬
keit, die der bildende Geist Goethe's seinen Geschöpfen mitgegeben hat. --

Von Egmonts Klärchen wenden wir uns zu Fausts Gretchen. Es ist
ohne Zweifel vom Künstler richtig, daß er sich an diese Gestalt hielt und
nicht an Faust, der die ewige Gattung des Menschlichen repräsentirt und ein
Individuum nur ist, insofern sich jene in ihm mit dem allmäligen Verlauf
des Lebens zu einer Reihenfolge von bestimmten Momenten auseinanderlegt.
Es sind zwei Blätter: das eine der Kirchengang -- weshalb Kaulbach Gret¬
chen zur Kirche gehen, statt daher kommen läßt, ist nicht abzusehen -- also
5er Anfang der Bekanntschaft, das andere das Gebet der Verlassenen zur
Mutter Maria, so ziemlich das Ende der erfüllten Liebe. Diese Wahl der
beiden Grenzpunkte des Verhältnisses ist gewiß nicht zufällig; die beiden Blätter
gehören zu einander, es besteht zwischen ihnen eine Art von novellistischer Be¬
ziehung, die dem Beschauer keine Ruhe läßt und seine Phantasie auf die
ganze Zwischenkctte der Begebenheiten ablenkt. Immerhin ist das erste Motiv
für den Künstler nicht undankbar; es war ihm Gelegenheit gegeben. Gretchen
in dem ganzen Liebreiz jugendlicher Unschuld und Schönheit darzustellen, im
Conti äste zu ihr den bösen Gesellen, zwischen Beiden den verjüngten, liebes¬
ergriffenen Faust. Hier konnte seine Hand, die sich ja vollendeter Zeichnung
rühmt, sowol durch das harmonische Spiel schwungvoller Linien, als den
Ausdruck einer holden Züchtigkeit in Mienen, Gang und Haltung ein wirklich
anziehendes Bild hervorbringen. Aber weder das Eine noch das Andere
haben wir in dem Blatt finden können. Mit moderner Geziertheit, mit
einer fast gewaltsamen, lüsternen Kopfwendung, welche den Körper zu verren¬
ken scheint, schaut sich das Mädchen nach dem Ritter um, der, um sich für
diese Schönheit zu entflammen, wahrlich des Hcxentrankes bedürfte. In dem
hart, eckig gebrochenen Gewand, in der verschrobenen Haltung des Körpers ist
nichts von dem anmuthvoller Fluß der Linien, den-' das Auge erwartet. Das
ist das Gretchen nicht, dem Goethe allen Zauber mädchenhafter Schönheit
und Innigkeit mitgegeben hat; die Person hat die Tournüre und die Manieren
einer Schauspielerin, wie andrerseits 5er Faust mit seinen verschobenen Wa¬
den ungefähr wie ein Theaterheld aussieht.

Die Wahl des zweiten Motivs ist von vornherein gänzlich verunglückt.
Die tiefinnerliche, von dumpfem Schmerz erfüllte, durchaus lyrische sein-


Und daher auch in der Darstellung: da sich in der Gestalt selber, was sie
bewegt und erfüllt, nicht genügend ausdrückt, so führt sie ein Scheinleben, sie
wirkt unruhig, unzusammenhängend, wie wenn sie den Schwerpunkt ihres Da¬
seins nicht in sich, sondern außer sich hätte. Daher endlich ist auch die Be¬
ziehung der Gestalten zueinander ohne Leben; sie kommt nicht von innen her¬
aus, schlägt nicht von Herz zu Herz, ist kein Sich-Neigen von Seele zu Seele.
Nirgends aber ist ein Zug von der anschaulichen Wahrheit und der Behaglich¬
keit, die der bildende Geist Goethe's seinen Geschöpfen mitgegeben hat. —

Von Egmonts Klärchen wenden wir uns zu Fausts Gretchen. Es ist
ohne Zweifel vom Künstler richtig, daß er sich an diese Gestalt hielt und
nicht an Faust, der die ewige Gattung des Menschlichen repräsentirt und ein
Individuum nur ist, insofern sich jene in ihm mit dem allmäligen Verlauf
des Lebens zu einer Reihenfolge von bestimmten Momenten auseinanderlegt.
Es sind zwei Blätter: das eine der Kirchengang — weshalb Kaulbach Gret¬
chen zur Kirche gehen, statt daher kommen läßt, ist nicht abzusehen — also
5er Anfang der Bekanntschaft, das andere das Gebet der Verlassenen zur
Mutter Maria, so ziemlich das Ende der erfüllten Liebe. Diese Wahl der
beiden Grenzpunkte des Verhältnisses ist gewiß nicht zufällig; die beiden Blätter
gehören zu einander, es besteht zwischen ihnen eine Art von novellistischer Be¬
ziehung, die dem Beschauer keine Ruhe läßt und seine Phantasie auf die
ganze Zwischenkctte der Begebenheiten ablenkt. Immerhin ist das erste Motiv
für den Künstler nicht undankbar; es war ihm Gelegenheit gegeben. Gretchen
in dem ganzen Liebreiz jugendlicher Unschuld und Schönheit darzustellen, im
Conti äste zu ihr den bösen Gesellen, zwischen Beiden den verjüngten, liebes¬
ergriffenen Faust. Hier konnte seine Hand, die sich ja vollendeter Zeichnung
rühmt, sowol durch das harmonische Spiel schwungvoller Linien, als den
Ausdruck einer holden Züchtigkeit in Mienen, Gang und Haltung ein wirklich
anziehendes Bild hervorbringen. Aber weder das Eine noch das Andere
haben wir in dem Blatt finden können. Mit moderner Geziertheit, mit
einer fast gewaltsamen, lüsternen Kopfwendung, welche den Körper zu verren¬
ken scheint, schaut sich das Mädchen nach dem Ritter um, der, um sich für
diese Schönheit zu entflammen, wahrlich des Hcxentrankes bedürfte. In dem
hart, eckig gebrochenen Gewand, in der verschrobenen Haltung des Körpers ist
nichts von dem anmuthvoller Fluß der Linien, den-' das Auge erwartet. Das
ist das Gretchen nicht, dem Goethe allen Zauber mädchenhafter Schönheit
und Innigkeit mitgegeben hat; die Person hat die Tournüre und die Manieren
einer Schauspielerin, wie andrerseits 5er Faust mit seinen verschobenen Wa¬
den ungefähr wie ein Theaterheld aussieht.

Die Wahl des zweiten Motivs ist von vornherein gänzlich verunglückt.
Die tiefinnerliche, von dumpfem Schmerz erfüllte, durchaus lyrische sein-


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[0064] Und daher auch in der Darstellung: da sich in der Gestalt selber, was sie bewegt und erfüllt, nicht genügend ausdrückt, so führt sie ein Scheinleben, sie wirkt unruhig, unzusammenhängend, wie wenn sie den Schwerpunkt ihres Da¬ seins nicht in sich, sondern außer sich hätte. Daher endlich ist auch die Be¬ ziehung der Gestalten zueinander ohne Leben; sie kommt nicht von innen her¬ aus, schlägt nicht von Herz zu Herz, ist kein Sich-Neigen von Seele zu Seele. Nirgends aber ist ein Zug von der anschaulichen Wahrheit und der Behaglich¬ keit, die der bildende Geist Goethe's seinen Geschöpfen mitgegeben hat. — Von Egmonts Klärchen wenden wir uns zu Fausts Gretchen. Es ist ohne Zweifel vom Künstler richtig, daß er sich an diese Gestalt hielt und nicht an Faust, der die ewige Gattung des Menschlichen repräsentirt und ein Individuum nur ist, insofern sich jene in ihm mit dem allmäligen Verlauf des Lebens zu einer Reihenfolge von bestimmten Momenten auseinanderlegt. Es sind zwei Blätter: das eine der Kirchengang — weshalb Kaulbach Gret¬ chen zur Kirche gehen, statt daher kommen läßt, ist nicht abzusehen — also 5er Anfang der Bekanntschaft, das andere das Gebet der Verlassenen zur Mutter Maria, so ziemlich das Ende der erfüllten Liebe. Diese Wahl der beiden Grenzpunkte des Verhältnisses ist gewiß nicht zufällig; die beiden Blätter gehören zu einander, es besteht zwischen ihnen eine Art von novellistischer Be¬ ziehung, die dem Beschauer keine Ruhe läßt und seine Phantasie auf die ganze Zwischenkctte der Begebenheiten ablenkt. Immerhin ist das erste Motiv für den Künstler nicht undankbar; es war ihm Gelegenheit gegeben. Gretchen in dem ganzen Liebreiz jugendlicher Unschuld und Schönheit darzustellen, im Conti äste zu ihr den bösen Gesellen, zwischen Beiden den verjüngten, liebes¬ ergriffenen Faust. Hier konnte seine Hand, die sich ja vollendeter Zeichnung rühmt, sowol durch das harmonische Spiel schwungvoller Linien, als den Ausdruck einer holden Züchtigkeit in Mienen, Gang und Haltung ein wirklich anziehendes Bild hervorbringen. Aber weder das Eine noch das Andere haben wir in dem Blatt finden können. Mit moderner Geziertheit, mit einer fast gewaltsamen, lüsternen Kopfwendung, welche den Körper zu verren¬ ken scheint, schaut sich das Mädchen nach dem Ritter um, der, um sich für diese Schönheit zu entflammen, wahrlich des Hcxentrankes bedürfte. In dem hart, eckig gebrochenen Gewand, in der verschrobenen Haltung des Körpers ist nichts von dem anmuthvoller Fluß der Linien, den-' das Auge erwartet. Das ist das Gretchen nicht, dem Goethe allen Zauber mädchenhafter Schönheit und Innigkeit mitgegeben hat; die Person hat die Tournüre und die Manieren einer Schauspielerin, wie andrerseits 5er Faust mit seinen verschobenen Wa¬ den ungefähr wie ein Theaterheld aussieht. Die Wahl des zweiten Motivs ist von vornherein gänzlich verunglückt. Die tiefinnerliche, von dumpfem Schmerz erfüllte, durchaus lyrische sein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/64>, abgerufen am 25.08.2024.