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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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als ein schreiendes Weib. Und mag es die edelste Leidenschaft sein, die das weib¬
liche Herz bis in die innersten Tiefen aufwühlte: der Schrei ist als Erscheinung
unerträglich, wenn nicht zugleich der vernehmliche Ton erschütternd in die
Seele dringt. Aber weßhalb muß denn Klärchen grade schreien, so laut
schreien, daß sich das Fischweih neben ihr die Ohren zuhält, daß Alles be¬
stürzt nach ihr hinblickt? In der naiven Zeit der Kunst kam ein Orcagna
auf den Gedanken, auf seinem Triumph des Todes einen der Fürsten des,
Leichengeruches wegen sich die Nase zuhalten zu lassen: es war die Zeit, in
der Heiliges und Weltliches unversöhnt, aber auch noch nicht entzweit, un¬
vermittelt neben einander stand. Schon ein Pordenone war reflectirt. als er
diesen Zug auf seinem Begräbnisse Christi wieder anbrachte. Daß aber auf
einem Bilde ernster Conception eine Gestalt sich die Ohren zuhält, weil ihr
der verzweiflungsvolle Schrei einer andern unerträglich ist: das ist bis jetzt
noch nicht dagewesen. Auch das Kunstwerk, das sich an die Dichtung lehnt,
soll wenigstens bis zu einem gewissen Grade aus sich selbst verständlich sein,
wenigstens nicht für etwas ganz Anderes gehalten werden können, als es sein
will. Es ist aber hundert gegen Eins zu wetten, daß der Beschauer, der das
Goethe'sche Drama nicht kennt, eine Irrsinnige vor sich zu sehen glauben
wird, die, eben dem Tollhause entsprungen, die Straße unsicher macht, nach
der die Männer erschreckt sich umsehen, vor der die Frauen entsetzt sich zu¬
rückziehen. Wenn nicht Klärchen grade so gut wie die übrigen Goethe'schen
Frauengestalten sich in der deutschen Phantasie durch ihre schöne Natürlich¬
keit, ihren Seelcnzauber und Liebreiz zu einem festen Bilde ausgeprägt hätte:
die Kaulbach'sche Figur wäre im Stande, uns das liebe Geschöpf ganz zu ver¬
leiden. Wohl fehlte dem milden beschaulichen Geiste Goethe's die Fähigkeit
nicht, in die unheimliche Tiefe der schmerzlichsten Empfindungen hinabzusteigen
und ihren aufwühlenden Sturm zur Erscheinung zu bringen: aber das furcht¬
bare Bild geht flüchtig vorüber, um sich in die heitere Harmonie des Lebens
oder die stille Versöhnung des Todes aufzulösen. Wie stirbt Klärchen, wie
tritt sie in ihren letzten Augenblicken in die schönen Schranken des echt Weib¬
lichen zurück; es ist ein "zur Ruhe gehen" und der Zuschauer soll nicht sehen,
wie die holde Seele den Körper verläßt. Wenn nun die Phantasie an dem
Faden der Verzweiflungsscene fortlaufend auch diesen Tod sich vorstellen könnte,
so wäre der Anblick -- falls, wohlgemerkt, der Ausdruck nicht die Form zer¬
risse -- vielleicht eher erträglich. Aber das ist eine weitere Folge des Mi߬
griffs: der Künstler machte die Spitze der Verzweiflung zu seinem Vorwurf,
von der die Phantasie nur noch den Blick in den dunkeln Abgrund der Ver¬
nichtung frei hat.

Allein abgesehen davon, daß gerade Klärchen nicht so Hütte dargestellt
werden sollen: diese äußerste Leidenschaft, dieser aus der tiefsten Noth hervor-


Grenzlwten II, 18V1. . > 7

als ein schreiendes Weib. Und mag es die edelste Leidenschaft sein, die das weib¬
liche Herz bis in die innersten Tiefen aufwühlte: der Schrei ist als Erscheinung
unerträglich, wenn nicht zugleich der vernehmliche Ton erschütternd in die
Seele dringt. Aber weßhalb muß denn Klärchen grade schreien, so laut
schreien, daß sich das Fischweih neben ihr die Ohren zuhält, daß Alles be¬
stürzt nach ihr hinblickt? In der naiven Zeit der Kunst kam ein Orcagna
auf den Gedanken, auf seinem Triumph des Todes einen der Fürsten des,
Leichengeruches wegen sich die Nase zuhalten zu lassen: es war die Zeit, in
der Heiliges und Weltliches unversöhnt, aber auch noch nicht entzweit, un¬
vermittelt neben einander stand. Schon ein Pordenone war reflectirt. als er
diesen Zug auf seinem Begräbnisse Christi wieder anbrachte. Daß aber auf
einem Bilde ernster Conception eine Gestalt sich die Ohren zuhält, weil ihr
der verzweiflungsvolle Schrei einer andern unerträglich ist: das ist bis jetzt
noch nicht dagewesen. Auch das Kunstwerk, das sich an die Dichtung lehnt,
soll wenigstens bis zu einem gewissen Grade aus sich selbst verständlich sein,
wenigstens nicht für etwas ganz Anderes gehalten werden können, als es sein
will. Es ist aber hundert gegen Eins zu wetten, daß der Beschauer, der das
Goethe'sche Drama nicht kennt, eine Irrsinnige vor sich zu sehen glauben
wird, die, eben dem Tollhause entsprungen, die Straße unsicher macht, nach
der die Männer erschreckt sich umsehen, vor der die Frauen entsetzt sich zu¬
rückziehen. Wenn nicht Klärchen grade so gut wie die übrigen Goethe'schen
Frauengestalten sich in der deutschen Phantasie durch ihre schöne Natürlich¬
keit, ihren Seelcnzauber und Liebreiz zu einem festen Bilde ausgeprägt hätte:
die Kaulbach'sche Figur wäre im Stande, uns das liebe Geschöpf ganz zu ver¬
leiden. Wohl fehlte dem milden beschaulichen Geiste Goethe's die Fähigkeit
nicht, in die unheimliche Tiefe der schmerzlichsten Empfindungen hinabzusteigen
und ihren aufwühlenden Sturm zur Erscheinung zu bringen: aber das furcht¬
bare Bild geht flüchtig vorüber, um sich in die heitere Harmonie des Lebens
oder die stille Versöhnung des Todes aufzulösen. Wie stirbt Klärchen, wie
tritt sie in ihren letzten Augenblicken in die schönen Schranken des echt Weib¬
lichen zurück; es ist ein „zur Ruhe gehen" und der Zuschauer soll nicht sehen,
wie die holde Seele den Körper verläßt. Wenn nun die Phantasie an dem
Faden der Verzweiflungsscene fortlaufend auch diesen Tod sich vorstellen könnte,
so wäre der Anblick — falls, wohlgemerkt, der Ausdruck nicht die Form zer¬
risse — vielleicht eher erträglich. Aber das ist eine weitere Folge des Mi߬
griffs: der Künstler machte die Spitze der Verzweiflung zu seinem Vorwurf,
von der die Phantasie nur noch den Blick in den dunkeln Abgrund der Ver¬
nichtung frei hat.

Allein abgesehen davon, daß gerade Klärchen nicht so Hütte dargestellt
werden sollen: diese äußerste Leidenschaft, dieser aus der tiefsten Noth hervor-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/59>, abgerufen am 25.08.2024.