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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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dichterischen Phantasie hinabsteige und daher über das maßvolle Wesen des
Poeten auf seinem Felde hinausgreife-, er wird sich mehr zu hüten haben,
daß er nicht ins Gedankenhafte gerathe. daß er nicht plastisch und male¬
risch auszudrücken suche, was sich so nicht ausdrücken läßt, als daß er auf die
bloße Erscheinung ein zu großes Gewicht lege. Gerade ihm liegt die Gefahr
nahe, die Grenzen seiner Kunst zu überschreiten und nach Situationen zu grei¬
fen, in denen die Unendlichkeit des innern Lebens den sichtbaren Ausdruck über¬
steigt; ein Schwanken zwischen mehr malerischen und mehr dichterisch bedeuten¬
den Motiven, wodurch weder dem Künstler noch dem Dichter sein Recht geschieht.
Die Halbheit, die schon in der äußern Form des Unternehmens liegt, konnte
leicht auch auf die Darstellung selber übergehen. --

Beginnen wir mit Werther's Leiden: so läßt sich nicht leugnen, daß der
Künstler mit geschicktem Griff eine wirklich malerische Situation dem fast durch¬
gängig lyrischen, also ungünstigen Stoffe entnommen hat, eine Situation, die
zugleich ein nicht unbedeutendes Moment des Ganzen bildet, da alt ihr Wer¬
ther's Liebe beginnt. "Das reizendste Schauspiel": Lotte die inmitten ihrer
Geschwister, geschmückt zum ländlichen Balle, den verlangenden Kleinen das
Vesperbrot austheilt. Also eine jugendliche Gestalt in einfacher Haltung, die
sich wirklich schon bilden ließ: um sie mannigfach gruppirt eine naive, liebens¬
würdige Kinderwelt. Was soll man aber von der Lotte des Künstlers sagen,
mit ihrem gewaltsam nach vorn dem Beschauer zugeschobenen Busen? hat sie
etwas von dem mädchenhaften Reize, dem ahnungsvollen Zuge, den auch
der Maler einer solchen Erscheinung zu geben vermag? Und nun die Kinder.
Wie philiströs das strickende Mädchen, das sich vom Bruder füttern läßt, wie
hastig und zapplig die anderen, die an Lotte herumzerren! Indessen mochte
immerhin das Auge aus der friedlichen Scene verweilen: wenn nur nicht der
zur Thüre hereintretende Werther wäre, der wie ein ungeladener Störcfried in
diese Stille mit weitausgreifenden Cornelius'schen Schritten hereinbricht. Wie
soll sich in seinen Zügen die tiefinuerliche, dunkle, noch unaufgeschlossene Em¬
pfindung ausdrücken, die sich in den Worten kund gibt: "meine ganze Seele ruhte
aus der Gestalt, dem Tone, dem Betragen und ich hatte eben Zeit, mich von der
Ueberraschung zu erholen u. f. f." Eine solche in dem tiefen Grunde des innern
Seelenlebens verlausende Stimmung läßt sich durch den Zeichenstift nicht
wiedergeben. Und doch war es Kaulbach offenbar um diese erste Beziehung
zwischen Werther und Lotte zu thun. Sein Werther, -- der übrigens nach
einer ganz andern Himmelsgegend schaut, als er sollte, sieht aus, Wie Einer
der nicht an die Thür geklopft hat und nun ein erstauntes Gesicht macht, da
er die Familie bei ihrem häuslichen Treiben überrascht. Schon dieses erste
Blatt erinnert uns an eine Briefstelle Goethe's an Schiller, die auf die mo¬
derne Kunst der idealistischen Richtung und insbesondere auf diese Zeichnungen


dichterischen Phantasie hinabsteige und daher über das maßvolle Wesen des
Poeten auf seinem Felde hinausgreife-, er wird sich mehr zu hüten haben,
daß er nicht ins Gedankenhafte gerathe. daß er nicht plastisch und male¬
risch auszudrücken suche, was sich so nicht ausdrücken läßt, als daß er auf die
bloße Erscheinung ein zu großes Gewicht lege. Gerade ihm liegt die Gefahr
nahe, die Grenzen seiner Kunst zu überschreiten und nach Situationen zu grei¬
fen, in denen die Unendlichkeit des innern Lebens den sichtbaren Ausdruck über¬
steigt; ein Schwanken zwischen mehr malerischen und mehr dichterisch bedeuten¬
den Motiven, wodurch weder dem Künstler noch dem Dichter sein Recht geschieht.
Die Halbheit, die schon in der äußern Form des Unternehmens liegt, konnte
leicht auch auf die Darstellung selber übergehen. —

Beginnen wir mit Werther's Leiden: so läßt sich nicht leugnen, daß der
Künstler mit geschicktem Griff eine wirklich malerische Situation dem fast durch¬
gängig lyrischen, also ungünstigen Stoffe entnommen hat, eine Situation, die
zugleich ein nicht unbedeutendes Moment des Ganzen bildet, da alt ihr Wer¬
ther's Liebe beginnt. „Das reizendste Schauspiel": Lotte die inmitten ihrer
Geschwister, geschmückt zum ländlichen Balle, den verlangenden Kleinen das
Vesperbrot austheilt. Also eine jugendliche Gestalt in einfacher Haltung, die
sich wirklich schon bilden ließ: um sie mannigfach gruppirt eine naive, liebens¬
würdige Kinderwelt. Was soll man aber von der Lotte des Künstlers sagen,
mit ihrem gewaltsam nach vorn dem Beschauer zugeschobenen Busen? hat sie
etwas von dem mädchenhaften Reize, dem ahnungsvollen Zuge, den auch
der Maler einer solchen Erscheinung zu geben vermag? Und nun die Kinder.
Wie philiströs das strickende Mädchen, das sich vom Bruder füttern läßt, wie
hastig und zapplig die anderen, die an Lotte herumzerren! Indessen mochte
immerhin das Auge aus der friedlichen Scene verweilen: wenn nur nicht der
zur Thüre hereintretende Werther wäre, der wie ein ungeladener Störcfried in
diese Stille mit weitausgreifenden Cornelius'schen Schritten hereinbricht. Wie
soll sich in seinen Zügen die tiefinuerliche, dunkle, noch unaufgeschlossene Em¬
pfindung ausdrücken, die sich in den Worten kund gibt: „meine ganze Seele ruhte
aus der Gestalt, dem Tone, dem Betragen und ich hatte eben Zeit, mich von der
Ueberraschung zu erholen u. f. f." Eine solche in dem tiefen Grunde des innern
Seelenlebens verlausende Stimmung läßt sich durch den Zeichenstift nicht
wiedergeben. Und doch war es Kaulbach offenbar um diese erste Beziehung
zwischen Werther und Lotte zu thun. Sein Werther, — der übrigens nach
einer ganz andern Himmelsgegend schaut, als er sollte, sieht aus, Wie Einer
der nicht an die Thür geklopft hat und nun ein erstauntes Gesicht macht, da
er die Familie bei ihrem häuslichen Treiben überrascht. Schon dieses erste
Blatt erinnert uns an eine Briefstelle Goethe's an Schiller, die auf die mo¬
derne Kunst der idealistischen Richtung und insbesondere auf diese Zeichnungen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/56>, abgerufen am 25.08.2024.