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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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der Ungunst der Zeit ist: die Wahl des Stoffes. Das ganze weite Reich der
Natur und Geschichte ist dem menschlichen Geiste erschlossen; man meint, er
habe nur mit kecker Hand hineinzulangen, um auf den ersten Griff mehr als
er braucht, zu fassen. Allein es fehlt hierzu eine Grundbedingung: es fehlt
das eiAfache Verhältniß des Menschen zu den Dingen, das sie nimmt wie sie
sind, es fehlt die naive Frische und Freiheit der Anschauung. Die Erschei¬
nung der Dinge kümmert den modernen Menschen wenig mehr; der Mann
des neunzehnten Jahrhunderts ist in jeder Beziehung, auch in geistiger, mehr
oder minder Chemiker und Physiker. Die Neflexionsbildung läßt nichts für
sich bestehen; sie fragt sofort nach dem woher, wohin, warum? sie zersetzt die
Dinge, um sie praktisch zu verwerthen oder wissenschaftlich zu erklären; sie unter¬
sucht Alles, berechnet Alles, kennt, weiß, benützt Alles, aber sie betrachtet nicht,
sie ist, sie will kein interesseloser Zuschauer sein. Darunter leidet auch d?r
Künstler. Und dann: die glücklichen Zeiten des Phantasielebens sind vorüber;
Mythen gibt es keine mehr, in bunter, heiterer, gcstaltenfroher Weise erscheint
die Welt nicht mehr und noch nicht wieder, durchgreifende, das Leben neuformende
Zustände und Handlungen sind erst in ferner Zukunft zu erwarten. Das Ver¬
hältniß zur Natur ist Naturwissenschaft, der Verkehr Handel, die Geschichte
Politik. Nirgends mehr ein malerischer Stoff, wie andrerseits die Anschauung
im Ganzen durchaus unkünstlerisch ist. Die vergangene Welt dagegen ist nicht
in unsere Phantasie, wol aber in unsern Verstand ein- und aufgegangen; und
wenn die Geschichte malerisch wäre, so ist sie doch dem Maler so gut wie un¬
zugänglich. Dieser hat jetzt weniger als je ein naives Verhältniß zu ihr; er
soll sich durch ihr inneres Getriebe, ihren geheimen Mechanismus durcharbeiten,
soll den tausend Fäden und Beziehungen nachgehen, die in ihr durcheinander
spielen. Wenn er es endlich dennoch zur Production bringt, wird er Geschichte
als solche darstellen wollen und daran scheitern. Es ist die alte Klage: "Ja
sie kehrten heim und alles Schöne ----"

Doch eine Welt scheint dem Künstler, der nicht im Genre oder der Lcmd-
schcift thätig ist, geblieben zu sein: die Schöpfungen unserer großen Dichter,
die Hinterlassenschaft von Schiller und Goethe. Ihre Gebilde wenigstens leben
in unsrer Phantasie fort; sie sind gleichsam in unser Fleisch und Blut über¬
gegangen, und was die jetzige Generation noch an ästhetischem Sinn und
künstlerischem Interesse übrig hat, hat sie ihnen zu verdanken. Also doch ein
' Stoff, der mit der Phantasie von Jugend auf zusammengewachsen ist, den
der Künstler naiv, packend, selbstverständlich aus sich herausstellen kann, weil
er ihn naiv und mit Begeisterung, ohne die ernüchternde Anstrengung einer
schwierigen Verstandesoperation in sich aufgenommen. Hier ist er der Theil¬
nahme des Betrachtenden sicher, der mit dem ersten Blick im Bilde zu Hause
ist; er hat nicht nöthig, denselben rathen zu lassen oder zu unterrichten, um


der Ungunst der Zeit ist: die Wahl des Stoffes. Das ganze weite Reich der
Natur und Geschichte ist dem menschlichen Geiste erschlossen; man meint, er
habe nur mit kecker Hand hineinzulangen, um auf den ersten Griff mehr als
er braucht, zu fassen. Allein es fehlt hierzu eine Grundbedingung: es fehlt
das eiAfache Verhältniß des Menschen zu den Dingen, das sie nimmt wie sie
sind, es fehlt die naive Frische und Freiheit der Anschauung. Die Erschei¬
nung der Dinge kümmert den modernen Menschen wenig mehr; der Mann
des neunzehnten Jahrhunderts ist in jeder Beziehung, auch in geistiger, mehr
oder minder Chemiker und Physiker. Die Neflexionsbildung läßt nichts für
sich bestehen; sie fragt sofort nach dem woher, wohin, warum? sie zersetzt die
Dinge, um sie praktisch zu verwerthen oder wissenschaftlich zu erklären; sie unter¬
sucht Alles, berechnet Alles, kennt, weiß, benützt Alles, aber sie betrachtet nicht,
sie ist, sie will kein interesseloser Zuschauer sein. Darunter leidet auch d?r
Künstler. Und dann: die glücklichen Zeiten des Phantasielebens sind vorüber;
Mythen gibt es keine mehr, in bunter, heiterer, gcstaltenfroher Weise erscheint
die Welt nicht mehr und noch nicht wieder, durchgreifende, das Leben neuformende
Zustände und Handlungen sind erst in ferner Zukunft zu erwarten. Das Ver¬
hältniß zur Natur ist Naturwissenschaft, der Verkehr Handel, die Geschichte
Politik. Nirgends mehr ein malerischer Stoff, wie andrerseits die Anschauung
im Ganzen durchaus unkünstlerisch ist. Die vergangene Welt dagegen ist nicht
in unsere Phantasie, wol aber in unsern Verstand ein- und aufgegangen; und
wenn die Geschichte malerisch wäre, so ist sie doch dem Maler so gut wie un¬
zugänglich. Dieser hat jetzt weniger als je ein naives Verhältniß zu ihr; er
soll sich durch ihr inneres Getriebe, ihren geheimen Mechanismus durcharbeiten,
soll den tausend Fäden und Beziehungen nachgehen, die in ihr durcheinander
spielen. Wenn er es endlich dennoch zur Production bringt, wird er Geschichte
als solche darstellen wollen und daran scheitern. Es ist die alte Klage: „Ja
sie kehrten heim und alles Schöne —--"

Doch eine Welt scheint dem Künstler, der nicht im Genre oder der Lcmd-
schcift thätig ist, geblieben zu sein: die Schöpfungen unserer großen Dichter,
die Hinterlassenschaft von Schiller und Goethe. Ihre Gebilde wenigstens leben
in unsrer Phantasie fort; sie sind gleichsam in unser Fleisch und Blut über¬
gegangen, und was die jetzige Generation noch an ästhetischem Sinn und
künstlerischem Interesse übrig hat, hat sie ihnen zu verdanken. Also doch ein
' Stoff, der mit der Phantasie von Jugend auf zusammengewachsen ist, den
der Künstler naiv, packend, selbstverständlich aus sich herausstellen kann, weil
er ihn naiv und mit Begeisterung, ohne die ernüchternde Anstrengung einer
schwierigen Verstandesoperation in sich aufgenommen. Hier ist er der Theil¬
nahme des Betrachtenden sicher, der mit dem ersten Blick im Bilde zu Hause
ist; er hat nicht nöthig, denselben rathen zu lassen oder zu unterrichten, um


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/52>, abgerufen am 22.07.2024.