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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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Zur geheimen Geschichte des russischen Feldzugs.

Unter dem Titel: Leeret Histor^ ok elf liussian Oampai^n ok 1812 ist
vor Kurzem aus dem Nachlaß des verstorbenen Generals Sir R. Wilson, 1812
englischer Militärbevollmächtigter im russischen Hauptquartier, ein Werk reich
an interessanten Enthüllungen über den innern Zusammenhang der Ereignisse
dieses für das Schicksal Europas entscheidenden Feldzuges veröffentlicht wor¬
den, das auch in wenigen Tagen dem deutschen Publicum in einer Über¬
setzung unter dem Titel: Geheime Geschichte des russischen Feldzuges von
1812 (Leipzig, bei A. Gumprecht) geboten werden wird. Der Versasser war
einer jener militärischen Diplomaten, denen die englische Staatskunst in ih¬
ren auswärtigen Beziehungen so große Erfolge verdankt. Diplomaten ge¬
wöhnlichen Schlags führen im besten Falle ihre Jnstructionen aus. und las¬
sen, wenn diese sie im Stiche lassen, die Dinge gehen, wie sie eben laufen
wollen, nur um keine Verantwortlichkeit zu übernehmen. Anders bei Wilson.
Er geht so vollkommen in der Begeisterung für seinen Auftrag auf, ist so
sehr nur darauf bedacht, das Interesse seines Staates zu fördern', daß das
drückende Gefühl der Verantwortlichkeit ihm ganz fremd bleibt, und er nie
ansteht, auf eigene Hand Schritte der wichtigsten und eingreifendsten Art zu
unternehmen, die er zur Erreichung des ihm vorgesteckten Zieles für nothwen¬
dig hält. Wo es gilt seinem Staate zu dienen, scheute er selbst nicht vor
Schritten zurück, die jedenfalls dem Begriff militärischer Ritterlichkeit wider¬
sprechen. So wohnte er der Conserenz der beiden Kaiser von Frankreich und
Rußland bei Tilsit 1807 als Kosack verkleidet bei, d. h. als Spion. Persönliche
Gefahr oder Anstrengung vollends ist für ihn gar nichts. Nach dem Tilsiter
Frieden wurde er in vertrauter Mission an den englischen Gesandten Gran-
ville in Se. Petersburg geschickt. Es war ihm zur Ueberfahrt eine Fregatte
zur Disposition gestellt, als er aber in Falmouth ankam, war keine auf der
Rhede. Um keine Zeit zu verlieren, erbot er sich trotz des stürmischen Wetters
in einem kleinen Cutter überzufahren, der bei Gothenburg fast gesunken wäre. Kurz
darauf verließ er Petersburg mit der Nachricht von dem beabsichtigten Ein¬
fall Rußlands in Finnland und der bevorstehenden Kriegserklärung gegen Eng-


Grenzboten II. 1S61. 61
Zur geheimen Geschichte des russischen Feldzugs.

Unter dem Titel: Leeret Histor^ ok elf liussian Oampai^n ok 1812 ist
vor Kurzem aus dem Nachlaß des verstorbenen Generals Sir R. Wilson, 1812
englischer Militärbevollmächtigter im russischen Hauptquartier, ein Werk reich
an interessanten Enthüllungen über den innern Zusammenhang der Ereignisse
dieses für das Schicksal Europas entscheidenden Feldzuges veröffentlicht wor¬
den, das auch in wenigen Tagen dem deutschen Publicum in einer Über¬
setzung unter dem Titel: Geheime Geschichte des russischen Feldzuges von
1812 (Leipzig, bei A. Gumprecht) geboten werden wird. Der Versasser war
einer jener militärischen Diplomaten, denen die englische Staatskunst in ih¬
ren auswärtigen Beziehungen so große Erfolge verdankt. Diplomaten ge¬
wöhnlichen Schlags führen im besten Falle ihre Jnstructionen aus. und las¬
sen, wenn diese sie im Stiche lassen, die Dinge gehen, wie sie eben laufen
wollen, nur um keine Verantwortlichkeit zu übernehmen. Anders bei Wilson.
Er geht so vollkommen in der Begeisterung für seinen Auftrag auf, ist so
sehr nur darauf bedacht, das Interesse seines Staates zu fördern', daß das
drückende Gefühl der Verantwortlichkeit ihm ganz fremd bleibt, und er nie
ansteht, auf eigene Hand Schritte der wichtigsten und eingreifendsten Art zu
unternehmen, die er zur Erreichung des ihm vorgesteckten Zieles für nothwen¬
dig hält. Wo es gilt seinem Staate zu dienen, scheute er selbst nicht vor
Schritten zurück, die jedenfalls dem Begriff militärischer Ritterlichkeit wider¬
sprechen. So wohnte er der Conserenz der beiden Kaiser von Frankreich und
Rußland bei Tilsit 1807 als Kosack verkleidet bei, d. h. als Spion. Persönliche
Gefahr oder Anstrengung vollends ist für ihn gar nichts. Nach dem Tilsiter
Frieden wurde er in vertrauter Mission an den englischen Gesandten Gran-
ville in Se. Petersburg geschickt. Es war ihm zur Ueberfahrt eine Fregatte
zur Disposition gestellt, als er aber in Falmouth ankam, war keine auf der
Rhede. Um keine Zeit zu verlieren, erbot er sich trotz des stürmischen Wetters
in einem kleinen Cutter überzufahren, der bei Gothenburg fast gesunken wäre. Kurz
darauf verließ er Petersburg mit der Nachricht von dem beabsichtigten Ein¬
fall Rußlands in Finnland und der bevorstehenden Kriegserklärung gegen Eng-


Grenzboten II. 1S61. 61
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[0491] Zur geheimen Geschichte des russischen Feldzugs. Unter dem Titel: Leeret Histor^ ok elf liussian Oampai^n ok 1812 ist vor Kurzem aus dem Nachlaß des verstorbenen Generals Sir R. Wilson, 1812 englischer Militärbevollmächtigter im russischen Hauptquartier, ein Werk reich an interessanten Enthüllungen über den innern Zusammenhang der Ereignisse dieses für das Schicksal Europas entscheidenden Feldzuges veröffentlicht wor¬ den, das auch in wenigen Tagen dem deutschen Publicum in einer Über¬ setzung unter dem Titel: Geheime Geschichte des russischen Feldzuges von 1812 (Leipzig, bei A. Gumprecht) geboten werden wird. Der Versasser war einer jener militärischen Diplomaten, denen die englische Staatskunst in ih¬ ren auswärtigen Beziehungen so große Erfolge verdankt. Diplomaten ge¬ wöhnlichen Schlags führen im besten Falle ihre Jnstructionen aus. und las¬ sen, wenn diese sie im Stiche lassen, die Dinge gehen, wie sie eben laufen wollen, nur um keine Verantwortlichkeit zu übernehmen. Anders bei Wilson. Er geht so vollkommen in der Begeisterung für seinen Auftrag auf, ist so sehr nur darauf bedacht, das Interesse seines Staates zu fördern', daß das drückende Gefühl der Verantwortlichkeit ihm ganz fremd bleibt, und er nie ansteht, auf eigene Hand Schritte der wichtigsten und eingreifendsten Art zu unternehmen, die er zur Erreichung des ihm vorgesteckten Zieles für nothwen¬ dig hält. Wo es gilt seinem Staate zu dienen, scheute er selbst nicht vor Schritten zurück, die jedenfalls dem Begriff militärischer Ritterlichkeit wider¬ sprechen. So wohnte er der Conserenz der beiden Kaiser von Frankreich und Rußland bei Tilsit 1807 als Kosack verkleidet bei, d. h. als Spion. Persönliche Gefahr oder Anstrengung vollends ist für ihn gar nichts. Nach dem Tilsiter Frieden wurde er in vertrauter Mission an den englischen Gesandten Gran- ville in Se. Petersburg geschickt. Es war ihm zur Ueberfahrt eine Fregatte zur Disposition gestellt, als er aber in Falmouth ankam, war keine auf der Rhede. Um keine Zeit zu verlieren, erbot er sich trotz des stürmischen Wetters in einem kleinen Cutter überzufahren, der bei Gothenburg fast gesunken wäre. Kurz darauf verließ er Petersburg mit der Nachricht von dem beabsichtigten Ein¬ fall Rußlands in Finnland und der bevorstehenden Kriegserklärung gegen Eng- Grenzboten II. 1S61. 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/491>, abgerufen am 22.07.2024.