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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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man empfindet es noch nicht als eine Lebensfrage für Preußen, es ist noch
nicht zum Gefühl, noch nicht zur Leidenschaft geworden.

Ist es darin im preußischen Volk besser beschaffen, als in der bisherigen
Majorität? Wir verkennen die wohlthätigen Wirkungen des Nationalvercins
auf die bisherige demokratische Partei keineswegs, aber sie scheinen doch sehr
beschränkt zu sein. Die Berliner Polizeifrage ist doch mit einem ganz andern
Eiser betrieben worden.

Es mag sein, daß dieser Enthaltsamkeit zugleich ein gesundes Motiv zu
Grunde liegt. Eine politische Thätigkeit, bei der man nicht unmittelbar nach
einem bestimmten Object wirken kann, artet leicht in Kannegießerei aus, und
wir wollten um Alles nicht, daß man wieder in die alte Phrasenwirthschaft
versiele. Aber es wäre doch ein günstiges Zeichen für den gesunden Sinn
des Volks, wenn es überall mit sicherem Instinkt den Zusammenhang jeder
einzelnen Frage mit dieser Haupt- und Lebensfrage herausfühlte.

Dieser Zusammenhang ist z. B. in dem großen Kampf um die Militär-
organisation nicht genügend hervorgetreten. Man ist auch in dieser Beziehung
mit der Majorität durchweg unzufrieden; es ist uns aber nicht deutlich ge¬
worden, welche Haltung man eigentlich erwartet und verlangt hat.

Daß die preußische Armee eine Reform bedürfte, haben die Mobilmach¬
ungen von 1850 und 1859 gezeigt. Wenn Preußen die Rolle spielen soll,
die ihm nicht bloß die constrlutionelle Partei, sondern auch der Nationalverein
auferlegen, so muß es im Stande sein, in kürzester Frist nach jeder Seite
hin eine schlagfertige Armee zu werfen. Daß die Reform schwere Opfer ko¬
sten würde, war vorauszusehen. Leider hat sich die Regierung in eine un¬
klare Lage gebracht, da sie die Rechtsfrage nicht bestimmt genug.hervortreten
ließ, und im Sinn des Herrenhauses eine Verpflichtung des Landtags
zur Bewilligung vermehrter Ausgaben in Anspruch nahm, die sie nicht be¬
gründen konnte. Diesen Nechtspunkt hat das Haus der Abgeordneten ge¬
wahrt.

Es waren ferner in den Vorschlägen der Negierung verschiedene Punkte,
die dem Bürgerthum mit Recht anstößig sein mußten. Die erste Frage nun
war: ob man überhaupt den Staat in der Lage glaubt, für die Verstärkung
der Armee ein großes Opfer zu bringen? die zweite: wie man sich Garan¬
tien dafür verschaffen könne, daß die Armee nicht einem ganz andern Zweck
diente als dem gewollten? die dritte: wie man die unzweckmäßigen Punkte
des neuen Systems beseitigen könne?

Die erste Frage hat der Landtag bejaht; er mußte sie bejahen, wenn
er seinem Staat die Stellung einer Großmacht vindiciren wollte. Die dritte
Frage konnte auf zweierlei Weise erledigt werden: entweder durch einen Gegen¬
plan, oder dadurch, daß man für mißliebige Positionen die Geldbewilligung


man empfindet es noch nicht als eine Lebensfrage für Preußen, es ist noch
nicht zum Gefühl, noch nicht zur Leidenschaft geworden.

Ist es darin im preußischen Volk besser beschaffen, als in der bisherigen
Majorität? Wir verkennen die wohlthätigen Wirkungen des Nationalvercins
auf die bisherige demokratische Partei keineswegs, aber sie scheinen doch sehr
beschränkt zu sein. Die Berliner Polizeifrage ist doch mit einem ganz andern
Eiser betrieben worden.

Es mag sein, daß dieser Enthaltsamkeit zugleich ein gesundes Motiv zu
Grunde liegt. Eine politische Thätigkeit, bei der man nicht unmittelbar nach
einem bestimmten Object wirken kann, artet leicht in Kannegießerei aus, und
wir wollten um Alles nicht, daß man wieder in die alte Phrasenwirthschaft
versiele. Aber es wäre doch ein günstiges Zeichen für den gesunden Sinn
des Volks, wenn es überall mit sicherem Instinkt den Zusammenhang jeder
einzelnen Frage mit dieser Haupt- und Lebensfrage herausfühlte.

Dieser Zusammenhang ist z. B. in dem großen Kampf um die Militär-
organisation nicht genügend hervorgetreten. Man ist auch in dieser Beziehung
mit der Majorität durchweg unzufrieden; es ist uns aber nicht deutlich ge¬
worden, welche Haltung man eigentlich erwartet und verlangt hat.

Daß die preußische Armee eine Reform bedürfte, haben die Mobilmach¬
ungen von 1850 und 1859 gezeigt. Wenn Preußen die Rolle spielen soll,
die ihm nicht bloß die constrlutionelle Partei, sondern auch der Nationalverein
auferlegen, so muß es im Stande sein, in kürzester Frist nach jeder Seite
hin eine schlagfertige Armee zu werfen. Daß die Reform schwere Opfer ko¬
sten würde, war vorauszusehen. Leider hat sich die Regierung in eine un¬
klare Lage gebracht, da sie die Rechtsfrage nicht bestimmt genug.hervortreten
ließ, und im Sinn des Herrenhauses eine Verpflichtung des Landtags
zur Bewilligung vermehrter Ausgaben in Anspruch nahm, die sie nicht be¬
gründen konnte. Diesen Nechtspunkt hat das Haus der Abgeordneten ge¬
wahrt.

Es waren ferner in den Vorschlägen der Negierung verschiedene Punkte,
die dem Bürgerthum mit Recht anstößig sein mußten. Die erste Frage nun
war: ob man überhaupt den Staat in der Lage glaubt, für die Verstärkung
der Armee ein großes Opfer zu bringen? die zweite: wie man sich Garan¬
tien dafür verschaffen könne, daß die Armee nicht einem ganz andern Zweck
diente als dem gewollten? die dritte: wie man die unzweckmäßigen Punkte
des neuen Systems beseitigen könne?

Die erste Frage hat der Landtag bejaht; er mußte sie bejahen, wenn
er seinem Staat die Stellung einer Großmacht vindiciren wollte. Die dritte
Frage konnte auf zweierlei Weise erledigt werden: entweder durch einen Gegen¬
plan, oder dadurch, daß man für mißliebige Positionen die Geldbewilligung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/465>, abgerufen am 25.08.2024.