Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.steht. Alle Lebensbeziehungen bilden sich unter dieser Perspektive. Das Kind Wenn wir aus unseren Criminalacten eine statistische Nachweisung der Man sagt, die Japaner seien eine überaus tapfere Nation; die Geschichte, Grenzboten II. 1L61. 40
steht. Alle Lebensbeziehungen bilden sich unter dieser Perspektive. Das Kind Wenn wir aus unseren Criminalacten eine statistische Nachweisung der Man sagt, die Japaner seien eine überaus tapfere Nation; die Geschichte, Grenzboten II. 1L61. 40
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0323" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/111755"/> <p xml:id="ID_1077" prev="#ID_1076"> steht. Alle Lebensbeziehungen bilden sich unter dieser Perspektive. Das Kind<lb/> wird früh mit der Idee des Todes vertraut gemacht, und die Manipulation,<lb/> sich den Bauch mit Würde und Anstand aufzuschneiden, bildet einen Theil<lb/> seines Unterrichts. Die Gewohnheit, das eigene Leben gering anzuschlagen,<lb/> stumpft auch die Achtung des Lebens Anderer nothwendig ab. Wir sehen bei<lb/> uns Männer, die für gewöhnlich nicht eine Fliege zu todten vermögen, als<lb/> Soldaten in der Hitze der Schlacht nicht nur gleichgiltig. sondern sogar be¬<lb/> gierig und grausam mit dem Leben Anderer spielen; ein ähnlicher Proceß, wie<lb/> er sich bei diesen momentan und rauschartig entwickelt, ist hier dauernd, ist<lb/> hier im Laufe der Zeit psychologische Racen-Eigenthümlichkeit geworden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1078"> Wenn wir aus unseren Criminalacten eine statistische Nachweisung der<lb/> Diebstähle und Morde ziehen, so werden wir wahrscheinlich finden (ich habe<lb/> kein statistisches Material bei der Hand und schätze daher nur). daß auf eine<lb/> Million Diebstähle erst ein Mord kommt. In Japan möchte ich annehmen,<lb/> daß dieses Verhältniß wie 1:1 steht, die Selbsthinrichtungen mit eingerechnet;<lb/> natürlich ist dabei die bereits erwähnte Thatsache in Betracht zu ziehen, daß<lb/> Diebstähle selten sind. Ein Todesfall scheint auch bei den Hinterbliebenen<lb/> (Familie, Freunden, Berufsgenossen) durchaus nicht den schmerzlichen Eindruck<lb/> zu machen, der bei uns — selbst wenn nicht gefühlt — doch zur Schau ge¬<lb/> tragen wird. Ich habe manches Begräbniß gesehen, aber keine Thräne, kein<lb/> Klagen. Die Japaner vermögen sogar in hübschen Formen darüber zu scher¬<lb/> zen. Unter den kaiserlichen Commissarien. welchen die Unterhandlung mit<lb/> unserer Gesandtschaft übertragen war, befand sich Hom-Oribe-Kami, welcher<lb/> als Präses der Commission fungirte, ein Beamter ersten Ranges. Er war<lb/> eine anziehende, heitere und feine Persönlichkeit, die unserem Gesandtschafts¬<lb/> personale ganz besonders lieb war. Eines Tages, schon gegen das Ende der<lb/> Verhandlungen, fehlte Hori-Oribe in der Konferenz. Er sei krank, sagten seine<lb/> Collegen. In der nächsten Konferenz ward unserem Gesandten der Tod des¬<lb/> selben officiell angezeigt und sein Nachfolger accreditirt. Schon war uns<lb/> mittlerweile die betrübende Kunde geworden, daß ihm die gnädige Erlaubniß<lb/> geworden war, sich den Bauch aufzuschneiden. Als nun die übrigen Com¬<lb/> missarien gefragt wurden, woran denn Hori-Oribe gestorben sei, antworteten<lb/> sie mit seinem Lächeln: „an Verblutung, ohne Hilfe der Medicin."</p><lb/> <p xml:id="ID_1079" next="#ID_1080"> Man sagt, die Japaner seien eine überaus tapfere Nation; die Geschichte,<lb/> soweit wir sie kennen, belehrt uns darüber nicht. Ich halte sie für stolz, jäh¬<lb/> zornig und rachsüchtig, und rechnen wir eine durch die Verhältnisse erzeugte<lb/> Meichgiltigkeit gegen das Leben hinzu, so wird mir erklärlich, wie man ge¬<lb/> täuscht sich aus diesen Charakterzügcn das Bild der Tapferkeit und männlicher<lb/> Lebensverachtung abstrahirt hat. Das Resultat eines solchen Rcgierungssy-<lb/> stems und des überall drohenden Todes kann aber nicht Männlichkeit und</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 1L61. 40</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0323]
steht. Alle Lebensbeziehungen bilden sich unter dieser Perspektive. Das Kind
wird früh mit der Idee des Todes vertraut gemacht, und die Manipulation,
sich den Bauch mit Würde und Anstand aufzuschneiden, bildet einen Theil
seines Unterrichts. Die Gewohnheit, das eigene Leben gering anzuschlagen,
stumpft auch die Achtung des Lebens Anderer nothwendig ab. Wir sehen bei
uns Männer, die für gewöhnlich nicht eine Fliege zu todten vermögen, als
Soldaten in der Hitze der Schlacht nicht nur gleichgiltig. sondern sogar be¬
gierig und grausam mit dem Leben Anderer spielen; ein ähnlicher Proceß, wie
er sich bei diesen momentan und rauschartig entwickelt, ist hier dauernd, ist
hier im Laufe der Zeit psychologische Racen-Eigenthümlichkeit geworden.
Wenn wir aus unseren Criminalacten eine statistische Nachweisung der
Diebstähle und Morde ziehen, so werden wir wahrscheinlich finden (ich habe
kein statistisches Material bei der Hand und schätze daher nur). daß auf eine
Million Diebstähle erst ein Mord kommt. In Japan möchte ich annehmen,
daß dieses Verhältniß wie 1:1 steht, die Selbsthinrichtungen mit eingerechnet;
natürlich ist dabei die bereits erwähnte Thatsache in Betracht zu ziehen, daß
Diebstähle selten sind. Ein Todesfall scheint auch bei den Hinterbliebenen
(Familie, Freunden, Berufsgenossen) durchaus nicht den schmerzlichen Eindruck
zu machen, der bei uns — selbst wenn nicht gefühlt — doch zur Schau ge¬
tragen wird. Ich habe manches Begräbniß gesehen, aber keine Thräne, kein
Klagen. Die Japaner vermögen sogar in hübschen Formen darüber zu scher¬
zen. Unter den kaiserlichen Commissarien. welchen die Unterhandlung mit
unserer Gesandtschaft übertragen war, befand sich Hom-Oribe-Kami, welcher
als Präses der Commission fungirte, ein Beamter ersten Ranges. Er war
eine anziehende, heitere und feine Persönlichkeit, die unserem Gesandtschafts¬
personale ganz besonders lieb war. Eines Tages, schon gegen das Ende der
Verhandlungen, fehlte Hori-Oribe in der Konferenz. Er sei krank, sagten seine
Collegen. In der nächsten Konferenz ward unserem Gesandten der Tod des¬
selben officiell angezeigt und sein Nachfolger accreditirt. Schon war uns
mittlerweile die betrübende Kunde geworden, daß ihm die gnädige Erlaubniß
geworden war, sich den Bauch aufzuschneiden. Als nun die übrigen Com¬
missarien gefragt wurden, woran denn Hori-Oribe gestorben sei, antworteten
sie mit seinem Lächeln: „an Verblutung, ohne Hilfe der Medicin."
Man sagt, die Japaner seien eine überaus tapfere Nation; die Geschichte,
soweit wir sie kennen, belehrt uns darüber nicht. Ich halte sie für stolz, jäh¬
zornig und rachsüchtig, und rechnen wir eine durch die Verhältnisse erzeugte
Meichgiltigkeit gegen das Leben hinzu, so wird mir erklärlich, wie man ge¬
täuscht sich aus diesen Charakterzügcn das Bild der Tapferkeit und männlicher
Lebensverachtung abstrahirt hat. Das Resultat eines solchen Rcgierungssy-
stems und des überall drohenden Todes kann aber nicht Männlichkeit und
Grenzboten II. 1L61. 40
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