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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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Rauchs Victorien in der Walhalla; wir würden zugleich Schwanthalers Bavaria
nennen, wenn diese nicht, wie fast alle Schöpfn" gen jenes im Erfinden und
Entwerfen so überaus genialen Künstlers in der Durchbildung so entsetzlich
leer und äußerlich wäre. Und von welcher feinen und gcmüthswarmen An¬
muth, von welch ergreifenden Formenadel sind die Reliefs dieser antikisiren-
den Richtung! Wer kennt und liebt nicht die herrliche" Neliefdarstellungen der
vier Tageszeiten? Weniger bekannt, weil umfangreicher und mehr an Ort
und Stelle gebunden, ist die Reihe der zwölf Reliefs in der Leipziger Aula.
Sie stellen die bedeutsamsten Ereignisse und Zeitalter der menschlichen Cul¬
turgeschichte dar, ' Es ist unsagbar, wie mächtig es wirkt, daß in den einzel¬
nen Feldern das Stilgefühl der jedesmaligen Epoche durchklingt und gleich¬
wol dieser lebensvollen Mannichfaltigkeit der Zauber zwingender Einheit ge¬
wahrt bleibt.

Wir wenden uns zu den christlich-mittelalterlichen Stoffen. Es ist un¬
leugbar, daß diese der milden und im schönsten Sinn frommen Persönlichkeit
Rietschels am nächsten lagen; dies ist ein Zug, der ihn sehr wesentlich von
seinem Meister Rauch unterscheidet. Aber sein an der Antike gebildeter Schön¬
heitssinn sicherte ihn in allen Stücken vor den Einseitigkeiten und Berirrungen
ascetischen Nazarencrthums, denen er seit seinen ersten Lehrjahren von Grund
aus und sür immer entwachsen war. Es war auch hier der Boden der Re¬
naissance, in welchem er wurzelte; aber wärmer, inniger, deutscher. Es wird
sich schwer entscheiden lassen, ob das Studium Peter Vischers an seiner Be¬
Handlungsweise einen unmittelbaren Antheil hat; gewiß ist die innere Aehn-
lichkeit und Verwandtschaft. Wie warm und innig, wie fromm aus tiefster
Seele empfunden sind die Engel, welche das Christkind vom Himmel der
Welt entgegentragen, .und wie groß und stilvoll sind die Formen der Körper
und der Gewandung! Das Hauptwerk dieser Richtung ist Maria am Leichnam
Christi, die Pieta. Es wird immer die Klippe dieser im ganzen Mittelalter
W beliebten und oft wiederholten Darstellung bleiben, daß der Leichnam ein
unschönes und insbesondere durchaus unplastisches Motiv ist; überdies hat er
uur die Bedeutung, die hohe Gestalt der schmerzensreichem Mutter herauszu¬
heben und zu erklären, und ist doch für drehe untergeordnete Bedeutung wie-
zu selbständig. Man kann namentlich darüber streiten, ob Rietschel Recht
!U'than hat. von den früheren Ueberlieferungen abweichend, den liegenden
Christus und die knieende Madonna als rechtwinklige Kreuzung einer hori¬
zontalen und verticalen Linie zu fassen; die Gruppe verliert dadurch an Rundung
Und Geschlossenheit. Versenken wir uns aber in die rührend innige und doch
durchaus antik stilvolle Hauptgestalt der klagenden und trauernden Maria, so
'se gar nicht genug zu bewundern, wie unvergleichlich der Künstler unbeugbare
Hohe'et und ergreifendsten Schmevzensausdruck zu vereinen und ineinanderzu.-


Greiizbotm II. 1861. , 38

Rauchs Victorien in der Walhalla; wir würden zugleich Schwanthalers Bavaria
nennen, wenn diese nicht, wie fast alle Schöpfn» gen jenes im Erfinden und
Entwerfen so überaus genialen Künstlers in der Durchbildung so entsetzlich
leer und äußerlich wäre. Und von welcher feinen und gcmüthswarmen An¬
muth, von welch ergreifenden Formenadel sind die Reliefs dieser antikisiren-
den Richtung! Wer kennt und liebt nicht die herrliche» Neliefdarstellungen der
vier Tageszeiten? Weniger bekannt, weil umfangreicher und mehr an Ort
und Stelle gebunden, ist die Reihe der zwölf Reliefs in der Leipziger Aula.
Sie stellen die bedeutsamsten Ereignisse und Zeitalter der menschlichen Cul¬
turgeschichte dar, ' Es ist unsagbar, wie mächtig es wirkt, daß in den einzel¬
nen Feldern das Stilgefühl der jedesmaligen Epoche durchklingt und gleich¬
wol dieser lebensvollen Mannichfaltigkeit der Zauber zwingender Einheit ge¬
wahrt bleibt.

Wir wenden uns zu den christlich-mittelalterlichen Stoffen. Es ist un¬
leugbar, daß diese der milden und im schönsten Sinn frommen Persönlichkeit
Rietschels am nächsten lagen; dies ist ein Zug, der ihn sehr wesentlich von
seinem Meister Rauch unterscheidet. Aber sein an der Antike gebildeter Schön¬
heitssinn sicherte ihn in allen Stücken vor den Einseitigkeiten und Berirrungen
ascetischen Nazarencrthums, denen er seit seinen ersten Lehrjahren von Grund
aus und sür immer entwachsen war. Es war auch hier der Boden der Re¬
naissance, in welchem er wurzelte; aber wärmer, inniger, deutscher. Es wird
sich schwer entscheiden lassen, ob das Studium Peter Vischers an seiner Be¬
Handlungsweise einen unmittelbaren Antheil hat; gewiß ist die innere Aehn-
lichkeit und Verwandtschaft. Wie warm und innig, wie fromm aus tiefster
Seele empfunden sind die Engel, welche das Christkind vom Himmel der
Welt entgegentragen, .und wie groß und stilvoll sind die Formen der Körper
und der Gewandung! Das Hauptwerk dieser Richtung ist Maria am Leichnam
Christi, die Pieta. Es wird immer die Klippe dieser im ganzen Mittelalter
W beliebten und oft wiederholten Darstellung bleiben, daß der Leichnam ein
unschönes und insbesondere durchaus unplastisches Motiv ist; überdies hat er
uur die Bedeutung, die hohe Gestalt der schmerzensreichem Mutter herauszu¬
heben und zu erklären, und ist doch für drehe untergeordnete Bedeutung wie-
zu selbständig. Man kann namentlich darüber streiten, ob Rietschel Recht
!U'than hat. von den früheren Ueberlieferungen abweichend, den liegenden
Christus und die knieende Madonna als rechtwinklige Kreuzung einer hori¬
zontalen und verticalen Linie zu fassen; die Gruppe verliert dadurch an Rundung
Und Geschlossenheit. Versenken wir uns aber in die rührend innige und doch
durchaus antik stilvolle Hauptgestalt der klagenden und trauernden Maria, so
'se gar nicht genug zu bewundern, wie unvergleichlich der Künstler unbeugbare
Hohe'et und ergreifendsten Schmevzensausdruck zu vereinen und ineinanderzu.-


Greiizbotm II. 1861. , 38
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[0307] Rauchs Victorien in der Walhalla; wir würden zugleich Schwanthalers Bavaria nennen, wenn diese nicht, wie fast alle Schöpfn» gen jenes im Erfinden und Entwerfen so überaus genialen Künstlers in der Durchbildung so entsetzlich leer und äußerlich wäre. Und von welcher feinen und gcmüthswarmen An¬ muth, von welch ergreifenden Formenadel sind die Reliefs dieser antikisiren- den Richtung! Wer kennt und liebt nicht die herrliche» Neliefdarstellungen der vier Tageszeiten? Weniger bekannt, weil umfangreicher und mehr an Ort und Stelle gebunden, ist die Reihe der zwölf Reliefs in der Leipziger Aula. Sie stellen die bedeutsamsten Ereignisse und Zeitalter der menschlichen Cul¬ turgeschichte dar, ' Es ist unsagbar, wie mächtig es wirkt, daß in den einzel¬ nen Feldern das Stilgefühl der jedesmaligen Epoche durchklingt und gleich¬ wol dieser lebensvollen Mannichfaltigkeit der Zauber zwingender Einheit ge¬ wahrt bleibt. Wir wenden uns zu den christlich-mittelalterlichen Stoffen. Es ist un¬ leugbar, daß diese der milden und im schönsten Sinn frommen Persönlichkeit Rietschels am nächsten lagen; dies ist ein Zug, der ihn sehr wesentlich von seinem Meister Rauch unterscheidet. Aber sein an der Antike gebildeter Schön¬ heitssinn sicherte ihn in allen Stücken vor den Einseitigkeiten und Berirrungen ascetischen Nazarencrthums, denen er seit seinen ersten Lehrjahren von Grund aus und sür immer entwachsen war. Es war auch hier der Boden der Re¬ naissance, in welchem er wurzelte; aber wärmer, inniger, deutscher. Es wird sich schwer entscheiden lassen, ob das Studium Peter Vischers an seiner Be¬ Handlungsweise einen unmittelbaren Antheil hat; gewiß ist die innere Aehn- lichkeit und Verwandtschaft. Wie warm und innig, wie fromm aus tiefster Seele empfunden sind die Engel, welche das Christkind vom Himmel der Welt entgegentragen, .und wie groß und stilvoll sind die Formen der Körper und der Gewandung! Das Hauptwerk dieser Richtung ist Maria am Leichnam Christi, die Pieta. Es wird immer die Klippe dieser im ganzen Mittelalter W beliebten und oft wiederholten Darstellung bleiben, daß der Leichnam ein unschönes und insbesondere durchaus unplastisches Motiv ist; überdies hat er uur die Bedeutung, die hohe Gestalt der schmerzensreichem Mutter herauszu¬ heben und zu erklären, und ist doch für drehe untergeordnete Bedeutung wie- zu selbständig. Man kann namentlich darüber streiten, ob Rietschel Recht !U'than hat. von den früheren Ueberlieferungen abweichend, den liegenden Christus und die knieende Madonna als rechtwinklige Kreuzung einer hori¬ zontalen und verticalen Linie zu fassen; die Gruppe verliert dadurch an Rundung Und Geschlossenheit. Versenken wir uns aber in die rührend innige und doch durchaus antik stilvolle Hauptgestalt der klagenden und trauernden Maria, so 'se gar nicht genug zu bewundern, wie unvergleichlich der Künstler unbeugbare Hohe'et und ergreifendsten Schmevzensausdruck zu vereinen und ineinanderzu.- Greiizbotm II. 1861. , 38

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/307>, abgerufen am 22.07.2024.