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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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Für einen Fremden ist es allerdings lehrreich, aus dem fertigen Kunstwerk
die Idee zu suchen und -- wie unvollständig dies auch immer möglich sei, --
in Worten zu beschreiben. Es läßt sich Manches dadurch-erkennen, was für
die einzelnen Dichter charakteristisch ist. Es sei z. B. die Grundlage von "Maria
Stuart": aufgeregte Eisersucht der Elisabeth treibt zu Tödtung ihrer Gegnerin;
und wieder von "Kabale und Liebe": aufgeregte Eifersucht eines Liebenden
treibt zu Tödtung seiner Geliebten; so wird diese nackte Formel zwar der
ganzen Fülle des farbigen Lebens enthoben sein, welches an der Idee haftet;
trotzdem wird einiges Eigenthümliche an dem Bau beider Stücke schon aus
ihr deutlich werden. Z. B. daß der Dichter bei so einfachem Grundgedanken
in die Versuchung kam, einen Theil der Handlung dazu zu dichten, welcher
das Entstehen der Eifersucht erklärte, woher es also kommt, daß die treibende
Kraft in den Hauptcharakteren erst von der Mitte des Stückes aus wirksam
wird, und daß die ersten Acte bis zum Höhenpunkt vorzugsweise die Bestre¬
bungen der Nebenfiguren enthalten, diese tödtliche Thätigkeit eines der Haupt¬
charaktere zu erregen. Er wird ferner verstehen, warum z. B. Mortimer nicht
nur als Gegenbild zu Leicester, sondern auch zu Elisabeth so edel gebildet
wurde, und warum seine Eifersucht, welche gerade diesem Charakter gegen einen
Nebenbuhler so angemessen gewesen wäre, zu wenig sichtbar wird. Er wird
ferner bemerken, wie ähnlich in ihrem letzten Grunde Motiv und Bau
in den beiden regelmäßigsten Dramen Schiller's sind, wie beide eine über¬
raschende Ähnlichkeit mit Idee und Bau des weit größern Othello haben,
u. s. w.

Einen Stoff nach einheitlicher Idee künstlerisch umbilden heißt ihn ideali-
siren. Die Charaktere des Dichters werden deshalb gegenüber den Stoffbildern
aus der Wirklichkeit, denen sie entnommen sind, mit einem bequemen Hand¬
werksausdruck Ideale genannt.*)

Jeder Stoff, gleichviel ob der Geschichte entnommen, einer Begebenheit
des wirklichen Lebens, der Sage, einer Novelle, wird für das Drama erst durch



*) Die wenigen technischen Ausdrücke verlangen vom Leser eine unbefangene Aufnahme-
Mehre derselben haben auch im Tngcsgcbrnuch seit den letzten hundert Jahren viele Nuancen
der Bedeutung durchgemacht. -- Nur Einzelnes sei hier bemerkt- Was hier Handlung heißt-
der für das Drama bereits organisirte Stoff sbei Aristoteles Mythos, bei den Römern Fabula),
das heißt bei Lessing r^och zuweilen Fabel, während er den rohen Stoff, die Praxis des Ari¬
stoteles, durch Handlung übersetzt. Aber auch Lessing gebraucht schon zuweilen das Wort
Handlung sprachlich richtiger , so wie es hier verwendet wird- -- Auf die Theorie der
Alten über die letzten Gesetze des dramatischen Schaffens zurückzugehen, war kein Grund.
Wie viel für das Verständniß des Aristoteles noch zu thun übrig bleibt, ist oft beklagt. Von
den Untersuchungen Lessing's über Schuld und Mitleid bis zur glänzenden Abhandlung von
Bernays über die Katharsis sind fast hundert Jahre vergangen! -- Auch die Umkehr und der
Schluß unserer Stücke haben eine andere Bedeutung, als die griechische Peripetie und Kata¬
strophe.

Für einen Fremden ist es allerdings lehrreich, aus dem fertigen Kunstwerk
die Idee zu suchen und — wie unvollständig dies auch immer möglich sei, —
in Worten zu beschreiben. Es läßt sich Manches dadurch-erkennen, was für
die einzelnen Dichter charakteristisch ist. Es sei z. B. die Grundlage von „Maria
Stuart": aufgeregte Eisersucht der Elisabeth treibt zu Tödtung ihrer Gegnerin;
und wieder von „Kabale und Liebe": aufgeregte Eifersucht eines Liebenden
treibt zu Tödtung seiner Geliebten; so wird diese nackte Formel zwar der
ganzen Fülle des farbigen Lebens enthoben sein, welches an der Idee haftet;
trotzdem wird einiges Eigenthümliche an dem Bau beider Stücke schon aus
ihr deutlich werden. Z. B. daß der Dichter bei so einfachem Grundgedanken
in die Versuchung kam, einen Theil der Handlung dazu zu dichten, welcher
das Entstehen der Eifersucht erklärte, woher es also kommt, daß die treibende
Kraft in den Hauptcharakteren erst von der Mitte des Stückes aus wirksam
wird, und daß die ersten Acte bis zum Höhenpunkt vorzugsweise die Bestre¬
bungen der Nebenfiguren enthalten, diese tödtliche Thätigkeit eines der Haupt¬
charaktere zu erregen. Er wird ferner verstehen, warum z. B. Mortimer nicht
nur als Gegenbild zu Leicester, sondern auch zu Elisabeth so edel gebildet
wurde, und warum seine Eifersucht, welche gerade diesem Charakter gegen einen
Nebenbuhler so angemessen gewesen wäre, zu wenig sichtbar wird. Er wird
ferner bemerken, wie ähnlich in ihrem letzten Grunde Motiv und Bau
in den beiden regelmäßigsten Dramen Schiller's sind, wie beide eine über¬
raschende Ähnlichkeit mit Idee und Bau des weit größern Othello haben,
u. s. w.

Einen Stoff nach einheitlicher Idee künstlerisch umbilden heißt ihn ideali-
siren. Die Charaktere des Dichters werden deshalb gegenüber den Stoffbildern
aus der Wirklichkeit, denen sie entnommen sind, mit einem bequemen Hand¬
werksausdruck Ideale genannt.*)

Jeder Stoff, gleichviel ob der Geschichte entnommen, einer Begebenheit
des wirklichen Lebens, der Sage, einer Novelle, wird für das Drama erst durch



*) Die wenigen technischen Ausdrücke verlangen vom Leser eine unbefangene Aufnahme-
Mehre derselben haben auch im Tngcsgcbrnuch seit den letzten hundert Jahren viele Nuancen
der Bedeutung durchgemacht. — Nur Einzelnes sei hier bemerkt- Was hier Handlung heißt-
der für das Drama bereits organisirte Stoff sbei Aristoteles Mythos, bei den Römern Fabula),
das heißt bei Lessing r^och zuweilen Fabel, während er den rohen Stoff, die Praxis des Ari¬
stoteles, durch Handlung übersetzt. Aber auch Lessing gebraucht schon zuweilen das Wort
Handlung sprachlich richtiger , so wie es hier verwendet wird- — Auf die Theorie der
Alten über die letzten Gesetze des dramatischen Schaffens zurückzugehen, war kein Grund.
Wie viel für das Verständniß des Aristoteles noch zu thun übrig bleibt, ist oft beklagt. Von
den Untersuchungen Lessing's über Schuld und Mitleid bis zur glänzenden Abhandlung von
Bernays über die Katharsis sind fast hundert Jahre vergangen! — Auch die Umkehr und der
Schluß unserer Stücke haben eine andere Bedeutung, als die griechische Peripetie und Kata¬
strophe.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/230>, abgerufen am 01.07.2024.