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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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preußischen Staat wehrlos zu machen. Aber diese Ueberzeugung muß nicht
blos auf Seite der Volksvertreter, sondern anch auf Seite der Regierung stattfin¬
den; die Regierung muß begreifen, daß die Volksvertreter nicht blos das
Recht, sondern auch die Pflicht haben, Garantie dafür zu fordern, daß die
neue Einrichtung nicht zum Verderben Preußens ausschlage. Zum Verderben
Preußens aber schlägt sie aus. wenn nicht vorher ausgemacht wird, daß die
Armee keinen Staat im Staate bilden darf. Die Volksvertreter unserer
Partei haben nicht blos das Recht, sondern die Pflicht, die Unterstützung der
Negierung in dieser Frage von der Garantie abhängig zu machen, welche die
letztere für den innern Frieden bietet. Eine vollgiltigc Garantie gewährt nur
ein Gesetz, durch welches der eximirte Gerichtsstand des Militärs in allen
Collisionsfällen mit dem Civilstand aufgehoben wird. Da ein solches Gesetz
im Herrenhause nie durchgehen würde, so ist eine Reform des Herren," auses die
zweite nothwendige Garantie für den innern Frieden, ohne welche die Ueber¬
nahme einer so ungeheuern Last nicht erfolgen darf. Die Abgeordneten wür¬
den eine schwere Verantwortung auf sich nelnnen, wenn sie auch diesmal, da die
Zeit drängt, sich zu einem summarischen Proceß verleiten ließen. Es hat für
sie und für die Negierung freilich viel Unbequemlichkeiten, wenn der Landtag
über die gewöhnliche Zeit hinaus ausgedehnt wird; aber wo es sich um eine
Lebensfrage für Preußen handelt, kommt es auf solche Unbequemlichkeiten
nicht an. Es ist sehr zu beklagen, daß die Negierung nicht in dieser ernsten
Sache die Initiative ergriffen hat; dem Landtag bleibt kein anderes Mittel,
als die Bewilligung neuer Steuern (und was für ungeheurer Steuern! von
denen noch dazu Niemand ahnt, wo sie herkommen sollen!) davon abhängig zu
machen, daß die Regierung endlich von dem ihr verfassungsmäßig zustehenden
Recht Gebrauch macht, die vollständige Stockung der preußischen Gesetzgebung
zu beendigen.

In der polnischen. Frage, wo die Regierung mit dem Landtag Hand in
Hand ging, hätten wir ein näheres Eingehen auf die Sache gewünscht. Die
Offenherzigkeit der Polen läßt nichts zu wünschen übrig: sie verlangen die
Grenzen von 1772, sie verlangen also u. a. Danzig, Elbing und Marienburg;
für diese Länder verlangen sie -- was? ist zwar nicht recht deutlich, aber doch
etwas wie gemeinsame Administration und gemeinsame Vertretung mit russisch
Polen. Ob es nun wirklich unter den polnischen Bewohnern von Posen In¬
dividuen gibt, bei denen der Einfall: lieber russisch als preußisch! mehr als
ein Einfall ist; ob die Zahl dieser Individuen sich nach den neuesten War¬
schauer Erfahrungen vermehrt hat, das ist gleichviel: jedenfalls verlangte die
Sache eine nicht blos formelle Behandlung.

So lange diese polnische Frage dauert, gibt es wenigstens ein Interesse,
welches für die Regierungen von Rußland, Preußen und Oestreich gemeinsam


preußischen Staat wehrlos zu machen. Aber diese Ueberzeugung muß nicht
blos auf Seite der Volksvertreter, sondern anch auf Seite der Regierung stattfin¬
den; die Regierung muß begreifen, daß die Volksvertreter nicht blos das
Recht, sondern auch die Pflicht haben, Garantie dafür zu fordern, daß die
neue Einrichtung nicht zum Verderben Preußens ausschlage. Zum Verderben
Preußens aber schlägt sie aus. wenn nicht vorher ausgemacht wird, daß die
Armee keinen Staat im Staate bilden darf. Die Volksvertreter unserer
Partei haben nicht blos das Recht, sondern die Pflicht, die Unterstützung der
Negierung in dieser Frage von der Garantie abhängig zu machen, welche die
letztere für den innern Frieden bietet. Eine vollgiltigc Garantie gewährt nur
ein Gesetz, durch welches der eximirte Gerichtsstand des Militärs in allen
Collisionsfällen mit dem Civilstand aufgehoben wird. Da ein solches Gesetz
im Herrenhause nie durchgehen würde, so ist eine Reform des Herren,» auses die
zweite nothwendige Garantie für den innern Frieden, ohne welche die Ueber¬
nahme einer so ungeheuern Last nicht erfolgen darf. Die Abgeordneten wür¬
den eine schwere Verantwortung auf sich nelnnen, wenn sie auch diesmal, da die
Zeit drängt, sich zu einem summarischen Proceß verleiten ließen. Es hat für
sie und für die Negierung freilich viel Unbequemlichkeiten, wenn der Landtag
über die gewöhnliche Zeit hinaus ausgedehnt wird; aber wo es sich um eine
Lebensfrage für Preußen handelt, kommt es auf solche Unbequemlichkeiten
nicht an. Es ist sehr zu beklagen, daß die Negierung nicht in dieser ernsten
Sache die Initiative ergriffen hat; dem Landtag bleibt kein anderes Mittel,
als die Bewilligung neuer Steuern (und was für ungeheurer Steuern! von
denen noch dazu Niemand ahnt, wo sie herkommen sollen!) davon abhängig zu
machen, daß die Regierung endlich von dem ihr verfassungsmäßig zustehenden
Recht Gebrauch macht, die vollständige Stockung der preußischen Gesetzgebung
zu beendigen.

In der polnischen. Frage, wo die Regierung mit dem Landtag Hand in
Hand ging, hätten wir ein näheres Eingehen auf die Sache gewünscht. Die
Offenherzigkeit der Polen läßt nichts zu wünschen übrig: sie verlangen die
Grenzen von 1772, sie verlangen also u. a. Danzig, Elbing und Marienburg;
für diese Länder verlangen sie — was? ist zwar nicht recht deutlich, aber doch
etwas wie gemeinsame Administration und gemeinsame Vertretung mit russisch
Polen. Ob es nun wirklich unter den polnischen Bewohnern von Posen In¬
dividuen gibt, bei denen der Einfall: lieber russisch als preußisch! mehr als
ein Einfall ist; ob die Zahl dieser Individuen sich nach den neuesten War¬
schauer Erfahrungen vermehrt hat, das ist gleichviel: jedenfalls verlangte die
Sache eine nicht blos formelle Behandlung.

So lange diese polnische Frage dauert, gibt es wenigstens ein Interesse,
welches für die Regierungen von Rußland, Preußen und Oestreich gemeinsam


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[0208] preußischen Staat wehrlos zu machen. Aber diese Ueberzeugung muß nicht blos auf Seite der Volksvertreter, sondern anch auf Seite der Regierung stattfin¬ den; die Regierung muß begreifen, daß die Volksvertreter nicht blos das Recht, sondern auch die Pflicht haben, Garantie dafür zu fordern, daß die neue Einrichtung nicht zum Verderben Preußens ausschlage. Zum Verderben Preußens aber schlägt sie aus. wenn nicht vorher ausgemacht wird, daß die Armee keinen Staat im Staate bilden darf. Die Volksvertreter unserer Partei haben nicht blos das Recht, sondern die Pflicht, die Unterstützung der Negierung in dieser Frage von der Garantie abhängig zu machen, welche die letztere für den innern Frieden bietet. Eine vollgiltigc Garantie gewährt nur ein Gesetz, durch welches der eximirte Gerichtsstand des Militärs in allen Collisionsfällen mit dem Civilstand aufgehoben wird. Da ein solches Gesetz im Herrenhause nie durchgehen würde, so ist eine Reform des Herren,» auses die zweite nothwendige Garantie für den innern Frieden, ohne welche die Ueber¬ nahme einer so ungeheuern Last nicht erfolgen darf. Die Abgeordneten wür¬ den eine schwere Verantwortung auf sich nelnnen, wenn sie auch diesmal, da die Zeit drängt, sich zu einem summarischen Proceß verleiten ließen. Es hat für sie und für die Negierung freilich viel Unbequemlichkeiten, wenn der Landtag über die gewöhnliche Zeit hinaus ausgedehnt wird; aber wo es sich um eine Lebensfrage für Preußen handelt, kommt es auf solche Unbequemlichkeiten nicht an. Es ist sehr zu beklagen, daß die Negierung nicht in dieser ernsten Sache die Initiative ergriffen hat; dem Landtag bleibt kein anderes Mittel, als die Bewilligung neuer Steuern (und was für ungeheurer Steuern! von denen noch dazu Niemand ahnt, wo sie herkommen sollen!) davon abhängig zu machen, daß die Regierung endlich von dem ihr verfassungsmäßig zustehenden Recht Gebrauch macht, die vollständige Stockung der preußischen Gesetzgebung zu beendigen. In der polnischen. Frage, wo die Regierung mit dem Landtag Hand in Hand ging, hätten wir ein näheres Eingehen auf die Sache gewünscht. Die Offenherzigkeit der Polen läßt nichts zu wünschen übrig: sie verlangen die Grenzen von 1772, sie verlangen also u. a. Danzig, Elbing und Marienburg; für diese Länder verlangen sie — was? ist zwar nicht recht deutlich, aber doch etwas wie gemeinsame Administration und gemeinsame Vertretung mit russisch Polen. Ob es nun wirklich unter den polnischen Bewohnern von Posen In¬ dividuen gibt, bei denen der Einfall: lieber russisch als preußisch! mehr als ein Einfall ist; ob die Zahl dieser Individuen sich nach den neuesten War¬ schauer Erfahrungen vermehrt hat, das ist gleichviel: jedenfalls verlangte die Sache eine nicht blos formelle Behandlung. So lange diese polnische Frage dauert, gibt es wenigstens ein Interesse, welches für die Regierungen von Rußland, Preußen und Oestreich gemeinsam

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/208>, abgerufen am 25.08.2024.